High - Genial unterwegs an Berg und Fels
möglichst schnell hinaufzukommen, ist am schwächsten besetzt – und hat für mich mit dem Klettern, wie ich es mag, am wenigsten zu tun.
Beim Lead-Klettern nach den Regeln des ISFC, des internationalen Kletterverbands, müssen wir im Vorstieg, gesichert durch ein Seil, auf einer bis dahin unbekannten Route möglichst weit klettern, idealerweise bis zum letzten Griff. Die Routen werden extra für den Wettkampf geschraubt, oft von ehemaligen Weltcup-Kletterern. Der Wettkampf wird in Qualifikations-, Halbfinal- und Finalrunde ausgetragen. In der Qualifikation gibt es zwei unterschiedliche Routen, in den Finaldurchgängen nur noch eine. Es gewinnt, wer im Finale am weitesten kommt.
Die Qualifikation wird »flash« geklettert: die Routen werden vorgeklettert und man darf sich gegenseitig zuschauen, muss die Route aber im ersten Versuch klettern. Die Finaldurchgänge werden »on sight« geklettert. Alle Athleten dürfen die Route ein paar Minuten lang vom Boden aus besichtigen. Während des Wettkampfs müssen sich alle, die noch nicht geklettert sind, in eine Isolationszone begeben, von der aus sie die Konkurrenten, die sich ihre Linie suchen, nicht sehen können. Damit wird vermieden, dass die Teilnehmer mit höheren Startnummern aus den Fehlern der Vorgänger lernen können. Für jeden Versuch gibt es ein Zeitlimit, das nicht überschritten werden darf. Ansonsten spielt die Zeit keine Rolle für die Platzierung.
Beim Bouldern müssen die Athleten auf einer viereinhalb Meter hohen Kletterwand Boulderprobleme klettern. Sie sind nicht angeseilt. Unter der Kletterwand liegt eine Matte, auf die man ohne Verletzungsgefahr fallen kann. In der Qualifikation sind fünf Boulderprobleme zu lösen. Je weniger Versuche, desto besser die Wertung. Die Athleten müssen von Anfang an in die Iso-Zone. Ein Boulder ist dann bewältigt, wenn er vom Startgriff bis zum Topgriff durchstiegen ist. In der Mitte des Boulder befindet sich ein Zonengriff. Wer den Zonengriff erreicht, bekommt zumindest die halbe Punktzahl. Es gibt Punkte dafür, ob Boulder zu Ende geklettert werden und wie viele Versuche man dafür braucht.
Meine Disziplin war schon immer das Lead-Klettern, oder, wie wir meistens sagen: der Vorstieg. Das hatte den einfachen Grund, dass Jugendwettbewerbe nur im Vorstieg ausgetragen werden. Boulder-Wettkämpfe gibt es nur in der allgemeinen Klasse.
Vorstieg und Boulder sind äußerst unterschiedliche Disziplinen. Wenn Vorstieg so etwas wie die Abfahrt beim Skirennlauf ist, dann ist Boulder vielleicht Slalom, vielleicht aber auch Snowboard. Beide Bewerbe haben ihre Spezialisten, aber es gibt kaum Athleten, die in beiden Disziplinen Spitze sind.
Der Boulderraum von Puurs, in dem wir uns aufwärmen, präsentiert sich groß und niedrig, und die Iso-Zone ist gerammelt voll. Die Veranstalter haben ein beheiztes Zelt aufstellen müssen, damit alle Athleten Platz finden. Der Weg zur Kletterwand führt durch einen kleinen Raum, in dem Matten gestapelt liegen, vorbei an einer glatten Wand, auf der nicht geklettert wird, weil sie nicht welt cuptauglich ist. Rechts das Publikum, links die gelbe Wand, auf der ich meinen ersten Weltcup klettern werde.
Nicht irgendwann.
In fünfzehn Minuten.
Die Wand ist im unteren Drittel senkrecht, streckt dann einen zwei, drei Meter dicken Bauch hinaus, zieht leicht überhängend weg, geht in zwei kräftige Wellen über und mündete in eine gerade Ausstiegsplatte. Die Qualitour ist mit schwarzen Griffen geschraubt. Sie führt in die linke, obere Ecke der Wand.
Ich bin gut vorbereitet, und ich vibriere. Meine Finger sind permanent in Bewegung, als müsste ich noch ein bisschen Kraft in sie hineinpressen. Ich bin zugleich happy, hier zu sein, und ungeduldig. Ich will die Griffe in den Händen spüren. Ich denke, dass ich nicht nervös bin, aber mein Nervensystem ist alarmiert. Mein Mund ist trocken. Nichts entgeht mir. Es ist die Vorfreude, die Zuspitzung aller meiner Träume auf das, was ich gleich erleben werde. Mein Wettkampf. Reini ist da, und nie habe ich ihn euphorischer gesehen. Er freut sich mindestens so wie ich, auch wenn er nicht weiß, was er sich erwarten soll: Soll er mich so coachen, als ob ich einer der Favoriten wäre? Oder wäre bereits die Qualifikation fürs Halbfinale der Hammer?
Im Bewerb die großen Namen der vergangenen Weltcupsaison. Flavio Crespi, der Italiener. Der tschechische Routinier Tomás Mrázek. Der Schweizer Cédric Lachat. Die beiden Spanier Ramón Julian
Weitere Kostenlose Bücher