High Heels im Hühnerstall
denken«, warf Mrs Alexander ein. »Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, dass Sie geschlafen haben, Sie müssen ja todmüde gewesen sein.«
»Es war eisig, eisigkalt in dieser Nacht«, fuhr Grace fort und schlang die Arme um sich, als würde sie sich vor der Kälte eines längst vergangenen Tages schützen wollen. »Der Boden war mit Frost überzogen, und ich wusste, dass er weder seinen Mantel noch seine Schuhe anhatte. Ich rief die Polizei an. Alle Beamten hielten nach ihm Ausschau, auch die Küstenwache, alle. Aber ich wusste, wo er steckte. Ich wusste, dass er an den Ort zurückgegangen war, an dem er sich wohl und zu Hause fühlte, an dem er mit Alicia reden konnte. Ich fand ihn auf den Stufen zu seinem Haus, diesen dummen alten Kerl. Saß bei Frost und Eis da, als würde er auf den Bahamas ein Sonnenbad nehmen.«
»Ach, nein«, hauchte Sophie. »War er … tot?«
»Nein, noch nicht. Er war unterkühlt und dehydriert. Zuerst versagten seine Nieren, dann andere Organe. Er war zwei Tage im Krankenhaus. Ich habe die ganze Zeit bei ihm gesessen. Sie haben versucht, mich nach Hause zu schicken, damit ich mich ausruhte, aber ich sagte, welchen Sinn hätte es, zu schlafen, während mein Mann im Sterben lag? Dass ich bis zur letzten Sekunde, die er auf dieser Erde weilte, bei ihm bleiben müsse. Er sprach zu mir, bevor er ging. Zumindest sprach er zu der Frau, die er vor mir geliebt hatte, und er schaute mich so an, wie er sie wohl immer angeschaut hatte, und das tröstete mich. ›Alicia‹, nannte er mich. Das war das Letzte, was er sagte.
Danach konnte ich nicht in den Bungalow zurück. Ich wollte das Haus nicht mehr. Deshalb habe ich es verkauft und bin hierher gekommen. Und hier lebe ich seitdem, und mir gefällt es hier, vor allem, seit ich euch beide habe. Meine Kinder waren nie zu viel zu gebrauchen, ich weiß nicht, warum – ich habe immer versucht, ihnen beizubringen, das Leben so zu lieben, wie ich es tat. Aber ihr beide, ihr seid jetzt meine Familie, und eine bessere könnte ich mir gar nicht wünschen.«
»Oh, mein Gott«, sagte Sophie, als Grace sie anlächelte, und ihr liefen Tränen über die Wangen. »Oh, Grace. Es tut mir so leid.«
»Ich muss dir nicht leidtun«, erwiderte Grace. »Ich habe in meinem Leben nichts zu bereuen. Gar nichts. Vielleicht hätte ich ein sichereres Leben, ein stetigeres führen können. Irgendeinen zuverlässigen Mann heiraten, bei ihm bleiben und mein Leben verrinnen lassen können. Vielleicht geht es für manche genau darum, am Leben zu sein. Aber das ist nichts für mich. Das war es noch nie. William war mein Abgesang, meine letzte große Liebe. Es tut mir nicht leid, dass ich ihn gefunden habe, und eins habe ich durch ihn gelernt, nämlich, dass die Liebe in schwierigen Zeiten nicht ins Wanken gerät. Sie festigt sich und wird stärker als je zuvor. Und ich weiß, dass deine Liebe zu Louis sich ebenfalls festigen wird. Trotz alledem, und sie wird wie das Baby in deinem Bauch ganz bestimmt weiterhin wachsen und gedeihen.«
»Vor allem, wenn du den Toast isst«, erinnerte Mrs Alexander sie freundlich.
»Aber was ist, wenn seine Liebe für mich sich nicht festigt?«, fragte Sophie und kaute das Brot, das ihrer Meinung nach wie verbrannter Karton schmeckte.
»Das wird sie«, sagte Mrs Alexander. »Er kommt bestimmt zurück.«
»Und wenn er wiederkommt«, erklärte Grace, »dann hast du allen Grund, ihm in die Eier zu treten, diesem unsensiblen Schwachkopf!«
Sophie war sich nicht sicher, ob es an der Schwangerschaft selbst lag, oder einfach an der Tatsache, dass sie jetzt darüber Bescheid wusste, aber auf einmal war sie erschöpft. Der Tag und die Nacht schienen nicht genügend Stunden zu haben, damit sie ausreichend Schlaf fand, während ihr Körper damit zu schaffen hatte, ein neues menschliches Wesen hervorzubringen, und ihr Kopf und das Herz versuchten, alles, was ihr seit jenem regnerischen Vormittag vor vielen Monaten zugestoßen war, als sie erfahren hatte, dass Carrie tot und sie für ihre beiden kleinen Mädchen verantwortlich war, unter einen Hut zu bringen. Mrs Alexander hatte ihr gesagt, dass sie für ihre Verhältnisse viel zu blass sei, und hatte sie kurz, nachdem sie ihren Toast aufgegessen hatte, für ein Nickerchen in ihr Zimmer hinaufgeschickt, und Sophie war schon eingeschlafen, bevor sie auch nur die Chance hatte, unter die Dusche zu gehen.
»Ich rufe dich, wenn es Zeit ist, die Mädchen abzuholen, okay? Du und das Baby, ihr braucht ein
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