High Heels im Hühnerstall
Deshalb unternahm ich einen kleinen Spaziergang. Damals war ich noch viel besser zu Fuß, bevor meine Knie von dieser verfluchten Arthritis befallen wurden. Viele der alten Mädchen in den Bungalows machen nach sechs Uhr abends nicht einmal mehr die Tür auf, aber zu denen habe ich nie gezählt. Ich sage immer, was soll’s, wenn ich an diesem Punkt meines Lebens ausgeraubt oder ermordet werde? Ich habe alles gehabt, was eine Frau sich im Leben erhoffen kann, und die Zeit, die mir jetzt noch gegeben ist, ist eine Zugabe, und ich werde sie jedenfalls nach Möglichkeit nicht hinter verschlossenen Türen verbringen.«
Mrs Alexander und Sophie tauschten einen Blick. Grace hatte das Gästehaus seit dem Tag, an dem sie angekommen war, nicht verlassen, sich höchstens an sonnigen Vormittagen in den Garten gesetzt. Das war eine Tatsache, die jedoch keiner je erwähnte.
»Ich war also an der Hafenmauer, schaute mir den Frühlingsvollmond an und spürte mein Blut durch meine Adern pulsieren. Ich fühlte mich wie damals in Frankreich während des Krieges. Als könnte jede Sekunde meine letzte sein, deshalb sollte ich sie lieber auskosten. Und genau in diesem Moment bemerkte ich, dass William mich beobachtete. Er war groß, das gefiel mir an ihm, und er hatte noch immer alle seine Haare – na ja, jedenfalls die meisten. Er verhielt sich wie ein junger Mann, wie ein Mann, der noch viel zu geben hatte.«
»Das dachte ich auch immer über Louis«, sagte Sophie wehmütig. »Ich fand immer, dass er viel zu geben hat, ich hatte nur nicht geplant, dass er es einer anderen gibt.«
»Wir wissen nicht, ob er überhaupt irgendjemandem etwas gegeben hat«, stellte Mrs Alexander fest und tätschelte ihr die Schulter.
»Mit Ausnahme seiner Spermien«, warf Grace ein. »Mit seinen Spermien geht er offenbar ziemlich großzügig um.«
Sophie presste die Lippen zusammen. »Also, dann erzählen Sie uns, wie Sie Mr Tregowan aufgerissen haben.«
»›Sie denken über verflossene Liebhaber nach‹, das hat er gesagt«, erzählte ihnen Grace. »Galant, wie es im Bilderbuch steht. ›Eine schöne Frau wie Sie sollte nicht daran denken‹, fuhr er fort. ›Kommen Sie mit mir auf einen Drink, dann können wir stattdessen über die erfüllte Liebe reden‹.«
Na ja, das war das beste Angebot, das ich seit dem Weihnachtsbingo erhalten hatte, deshalb dachte ich nicht daran, es abzulehnen. Er führte mich in den Anker und spendierte mir einen doppelten Whiskey. Das hat so viel Spaß gemacht, er hat mich zum Lachen gebracht, und er hatte dieses Funkeln in den Augen und eine besondere Art, mich anzusehen … Und dann gegen Ende des Abends, als die letzten Bestellungen aufgenommen wurden, legte er mir die Hand aufs Knie, küsste mich auf die Wange und fragte mich, ob er mich wiedersehen dürfte. Ich habe zugestimmt.«
Grace lächelte so kokett und nett wie einst als Achtzehnjährige, und Sophie sah sie für eine Sekunde in ihrem einstigen Glanz, eine vitale, kämpferische Naturgewalt, die alles beseitigte, was ihrer Lebenslust im Weg stand. Ein schönes, zierliches Mädchen mit veilchenblauen Augen und schwarzen Haaren, das sich gern dem Willen des Schicksals unterwarf und jede Sekunde ihres Lebens auskostete, was auch immer auf sie zukommen mochte.
»Na ja, wenn man mein Alter erreicht hat, wartet man nicht lange, deshalb haben wir nach sechs Wochen geheiratet. Frank war außer sich. Ist buchstäblich auf die Palme gegangen, behauptete, William wäre nur hinter meinem Bungalow und meinem Geld her. Das war er natürlich nicht, denn er hatte sein eigenes Haus oben auf dem Hügel. Ein großer viktorianischer Kasten, in dem er während seiner ganzen Ehe und danach gelebt hatte, obwohl er und seine erste Frau keine Kinder hatten. Wir hätten dort wohnen können, aber das war ihr Haus, und außerdem wollte ich nicht so weit außerhalb der Stadt wohnen. William sagte, dass er es gern gemütlich hätte, deshalb ist er bei mir eingezogen. Das waren richtige Flitterwochen, diese ersten Wochen, in denen wir das Schlafzimmer kaum verlassen haben, sobald …«
»Noch etwas Tee?«, unterbrach Mrs Alexander sie und füllte Sophies Becher auf. »Iss diesen Toast, Liebes. Das Baby braucht Nahrung.«
»Ich weiß«, antwortete Sophie, griff widerstrebend nach dem Toast und knabberte an dessen Ecken herum. »Und, was ist dann passiert, Grace?«
»Diese ersten paar Wochen waren die besten, die ich je hatte«, erzählte Grace. »Es hört sich komisch an, aber es
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