High Heels im Hühnerstall
stimmt. William war der allererste Mann, bei dem ich wirklich ich sein konnte. Bei ihm brauchte ich mich nicht zu verstellen und mich ihm anpassen, er hat mich geliebt, so wie ich war. Und wir haben jeden Tag gelacht, er war ein Lebenselixier.« Grace nahm ein Schlückchen von ihrem inzwischen eiskalten Tee. »Dann, eines Morgens, nannte er mich beim Namen seiner ersten Frau, Alicia. Ich nahm es ihm nicht übel, wir scherzten sogar darüber. Und zuerst waren es Kleinigkeiten, ein deplatziertes Wort, ein auf dem Herd vergessener Topf. Er hatte die Badewanne überlaufen lassen, und ich fand ihn im Garten beim Unkrautjäten, und er hatte ganz vergessen, dass er ein Bad nehmen wollte. Das war unbedeutend, altersbedingte Gedächtnislücken, nannten wir es. Die haben wir alle, die dummen, unwichtigen Dinge, die einem entfallen, wenn man den Kopf mit anderem voll hat. Dann, eines Nachmittags, rief er mich von einer Telefonzelle aus der Stadt an. Das werde ich nie vergessen, er klang so verängstigt und verloren. Er sagte mir, dass er nicht mehr wüsste, wie er nach Hause finden sollte. Es war gerade so, als wäre das kleine Stück seines Gehirns, in dem der Weg zu meinem Bungalow gespeichert war, entfernt worden. Er erinnerte sich daran, wie er zu seinem Haus gelangen konnte, aber er wusste, dass es leer stand und die Fenster zugenagelt waren, er wusste, dass Alicia dort nicht mehr lebte und dass er bei mir in unserem Bungalow wohnte. Aber er wusste nicht mehr, wie er vom Stadtzentrum dorthin kommen konnte. Deshalb ging ich los, holte ihn ab und führte ihn zu Tee und Kuchen aus, und bis wir an diesem Nachmittag nach Hause kamen, war alles wie immer, so als wäre nichts passiert.«
»Das muss Ihnen große Angst eingejagt haben«, stellte Sophie fest.
Grace schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Es ging ihm wieder gut, wissen Sie, sobald er mich sah. Es ging ihm wieder richtig gut. Aber er beschloss, trotzdem einen Arzt aufzusuchen, nur sicherheitshalber. Wir dachten, der würde uns sagen, dass es nichts Ernstes war, dass der Sensenmann eben ein bisschen näher kam. Es war ein ziemlicher Schock, als wir erfuhren, dass es Alzheimer war. An diesem Tag, als wir aus dem Krankenhaus heimfuhren, saßen wir im Bus, und er hielt meine Hand ganz fest und sagte, das Einzige, was er nicht ertragen könne, wäre, dass er mich vergessen würde. Er würde vergessen, wie sehr er mich liebe. Na ja, ich sagte ihm, dass ich ihn für uns beide lieben würde, aber ich weiß nicht, ob das so hilfreich war. Es dauerte lange, bis die Krankheit sich verschlechterte. Es vergingen viele Monate, in denen man kaum etwas merkte, und man wiegte sich fast in dem Glauben, die Ärzte hätten sich getäuscht. Dann, eines Morgens, wachte er auf, und es war zwanzig Jahre früher, und ich war Alicia. Und an manchen Nachmittagen ging er los und verlief sich wieder und musste mich anrufen, damit ich kam und ihn abholte. Ich habe ihm sogar eines dieser Handys mit nur einer gespeicherten Nummer besorgt, damit er sie sich nicht merken musste. Aber am Ende vergaß er immer wieder, dass er es bei sich hatte und wozu es zu gebrauchen war.«
»Wie sind Sie damit zurechtgekommen?«, fragte Sophie. »Ich meine, zu sehen, wie jemand, den man liebt, so abbaut?«
»Damit kommt man eigentlich nicht zurecht«, erklärte Grace nachdenklich. »Zumindest ich nicht. Ich bin in meinem Leben mit vielem zurechtgekommen, habe viel durchgemacht. Habe mein Herz verschlossen und erhobenen Hauptes weitergemacht, weil man nichts anderes tun kann. Aber William auf diese Weise zu verlieren, so langsam, so schmerzlich … seine Liebe zu verlieren – damit konnte ich mich nicht abfinden. Ich habe einfach von Tag zu Tag, von Minute zu Minute gelebt, so gut ich eben konnte.
Dann, eines Nachts, schaffte er es hinauszukommen, ich weiß nicht wie. Ich hatte die Tür verriegelt, eine Kette vorgelegt und zweimal abgeschlossen und den Schlüssel versteckt, aber egal, wie sehr seine Geisteskräfte auch nachließen, er fand immer einen Weg hinaus. Er war ein Mann, der noch nie gern eingesperrt gewesen war, und das war ein Teil von ihm, der bis zum Ende erhalten blieb.
Ich war so erschöpft, ihm den ganzen Tag nachzulaufen, dass ich in dieser Nacht wie ein Murmeltier schlief und erst am Morgen bemerkte, dass er fort war. Ich glaube noch immer, dass ich noch ein paar Jahre mit ihm gehabt hätte, wenn ich wach geblieben wäre, ihn im Auge behalten hätte …«
»Aber so dürfen Sie nicht
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