High Heels im Hühnerstall
sein, wenn Sie ihn aus den Augen verloren haben …?«
»Ich … Ich weiß nicht«, antwortete Sophie und kämpfte gegen die ansteigende Woge der Übelkeit und Frustration an.
»Versuchen Sie es in ihren Klassenzimmern«, schlug die Sekretärin vor. »Aber ich bin mir sicher, dass Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Wir sind hier sehr vorsichtig. Wir lassen unsere Kinder nicht einfach allein auf die Straße laufen. Ich wette, dass ihr Daddy sie abgeholt und vergessen hat, Ihnen Bescheid zu sagen. Eben typisch Mann. Die sagen einem doch nie etwas.«
Konnte Louis zurückgekehrt sein und die Kinder abgeholt haben, ohne ihr Bescheid zu geben?, fragte sich Sophie, als sie auf dem Absatz kehrtmachte und in Richtung Klassenzimmer ging. Genau so musste es gewesen sein, die Sekretärin hatte gewiss recht. Die Schule würde Izzy nicht einfach ohne jemanden, der nach ihr schaute, loslaufen lassen. Also müsste Louis zu Hause sein. Bei diesem Gedanken durchflutete sie ein Gefühl von Erleichterung, aber gleichermaßen auch von Wut. Was für ein Spiel spielte er da, wenn er sie nicht wissen ließ, dass er wieder zurück war?
Sophie wusste, dass die Kindertagesstätte längst menschenleer sein würde, deshalb machte sie sich auf die Suche nach Bellas Klassenzimmer, wo ihre Lehrerin, Mrs Sinclair, gerade ein paar Kunstwerke an die Wand pinnte.
»Hallo«, rief Sophie atemlos.
»Hallo?« Mrs Sinclair wirkte über die Störung wenig begeistert.
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass es Louis Gregory war, der Bella heute abgeholt hat.«
»Nein«, antwortete ihr Mrs Sinclair, als stünde eine leicht Minderbemittelte vor ihr.
»Nein?« Sophies Herzschlag setzte ein paar beängstigende Sekunden lang aus. »Wer war es dann?«
»Es war ihr großer Bruder«, sagte Mrs Sinclair. »Er kam zur Mittagszeit und hat Izzy abgeholt; das weiß ich, weil die junge Miss Aster ganz fasziniert war von ihm. Als die beiden um drei Uhr wiedergekommen sind, um Bella abzuholen, hatten sie einen riesigen aufblasbaren Delfin dabei. Ich habe Bella gefragt, wer er ist, und sie erklärte mir, dass er ihr großer Bruder ist und sie heute abholt. Ich war sehr überrascht, weil ich gar nicht gewusst habe, dass sie einen großen Bruder hat, aber sie schien ganz aufgeregt zu sein, mit ihm gehen zu dürfen. Sie sind dann zu dritt losgezogen.«
»Ihr Bruder hat sie abgeholt«, wiederholte Sophie, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, während ihr tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf schossen.
»Ja«, antwortete Mrs Sinclair bedächtig. »Gibt es da etwa ein Problem?«
»Ja«, sagte Sophie. »Das ziemlich große Problem, dass sie ihrem Bruder nämlich noch nie begegnet ist«, erklärte sie. »Sie weiß überhaupt nichts über ihn. Ich weiß überhaupt nichts über ihn. Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass er sich in einem besetzten Haus in London aufgehalten hat, zugedröhnt mit Drogen und Alkohol, und Sie lassen sie einfach mit ihm mitgehen?«
Mrs Sinclair erstarrte. »Aber Bella hat mir gesagt, dass er ihr Bruder ist, und sie ist ein so vernünftiges Mädchen, keines von denen, die mit einem Fremden mitgehen würden.«
Sophie dachte an Bellas Plan, sich vom Schulhof zu schleichen und sie anzurufen. Sie hatte sich Sorgen gemacht, wie sie reagieren würde, wenn Louis es zu weit trieb, und jetzt wusste sie es. Izzy war klein und vertrauensselig, und Seth hatte sie wahrscheinlich genauso problemlos aus den Armen der jungen und unerfahrenen Erzieherin gelockt, wie er Vögel von einem Baum gelockt hätte, und Izzy hatte sicher nicht bestritten, dass er ihr Bruder war, oder gesagt, dass sie nicht mit ihm gehen wollte. Im Gegenteil, sie war wohl erfreut gewesen, ihn kennenzulernen. Bella dagegen wusste, dass Seth sie nicht von der Schule abholen durfte. Vielleicht wollte sie diejenige sein, die das Rätsel löste und ihn ausfindig machte, oder vielleicht wollte sie nur Antworten auf alle ihre Fragen und Ängste bekommen. Vielleicht hatte sie gesehen, dass er Izzy bereits bei sich hatte, und beschlossen, mit ihm gehen zu müssen, um ihre kleine Schwester zu beschützen, doch so oder so hatte sie den Entschluss gefasst, ihn zu begleiten. Ob bewusst oder nicht, Bella hatte ihrem Daddy demonstriert, was passierte, wenn er sie im Stich ließ. Sophie bemerkte, dass sie den Atem anhielt.
»Ich hatte keine Veranlassung, argwöhnisch zu sein. Izzy war bereits zwei Stunden mit ihm unterwegs. Er sah nicht aus, als würde er unter Alkohol
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