High Heels und Gummistiefel
volle Minute des Schweigens folgte dieser Bekanntmachung. Dann hörte Daisy ihn herumhantieren – möglicherweise zog er sich eilig etwas über. Schließlich öffnete sich die Tür, und er stand in Jeans und einem Sweatshirt auf der Schwelle, das er verkehrt herum angezogen hatte. Offensichtlich hatte er auch versucht, sein Haar einigermaßen glatt zu streichen, doch Daisy sah am Hinterkopf ein vorwitziges Büschel emporstehen. Er starrte sie an.
»Du bist es wirklich.«
»Ja, ich bin es wirklich! Hi! Darf ich reinkommen?«
»Selbstverständlich«, antwortete Etienne, ließ sie vorbei und schloss die Tür hinter ihr. »Sag, brennt es irgendwo oder so?«
»N-nein, brennen tut’s nicht«, sagte Daisy langsam.
Das Zimmer, in das sie trat, war noch schlafwarm. Die Jalousie vor dem Fenster war heruntergezogen. Sie blickte sich um, sah einen Tisch und zwei Stühle vor dem Fenster, überall Bücherstapel und das Bett, aus dem er gerade gestiegen war; die weiße Daunendecke war zurückgeschlagen wie die Schaumkrone einer Meereswoge. Daisy legte ihre Tasche neben einem Gegenstand von erheblichem Alterswert – Etiennes Schreibmaschine – auf den Tisch. Dann rieb sie sich das Gesicht, atmete tief durch und drehte sich zu ihm um. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Tür. Sie sprang kopfüber ins kalte Wasser.
»Das hört sich jetzt total verrückt an, aber die Sache ist die, ich habe heute deinen Brief bekommen. Deinen Brief vom Februar. Ich meine, ich habe ihn gerade erst gelesen. Ich habe ihn heute Morgen gefunden.«
Etiennes Augen wurden schmal, während er diese Neuigkeit verarbeitete.
»Es tut mir so leid«, fuhr Daisy fort. »Er hat die ganze Zeit in meiner Manteltasche gesteckt.«
Etienne fuhr fort, schweigend an der Tür zu lehnen. Daisy wandte sich ab, um ihm Zeit zu lassen, und stellte fest, dass er die Wahrheit gesagt hatte: Seine Küche war sogar noch winziger als die von Isabelle. Er lebte tatsächlich in einer Dachkammer. Absolut fantastisch! Ohne auf ihre zitternden Hände zu achten, redete sie weiter. »Ich dachte, ich sollte es dir gleich sagen. Weil, bis vor einer Stunde habe ich es nicht gewusst. Ich habe gar nichts gewusst.«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. Er sah nachdenklich aus, rieb sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Was ich damit meine, ist, wenn ich... wenn ich deinen Brief im
Februar gefunden hätte, dann wäre ich... dann wäre ich da gewesen, auf der Brücke. Das ist eigentlich alles, was ich sagen wollte.«
Etienne ließ langsam die Hand sinken. Sein Blick begegnete dem von Daisy auf der anderen Seite des Zimmers.
»Und deshalb bist du gleich hergekommen, einfach so?«, fragte er und trat ein paar Schritte von der Tür weg.
»Ja!« Daisy verdrehte die Augen. »Ich habe sogar noch mein Nachthemd an.« Sie schlug eine Seite ihres Mantels auf. »Ta-da!«
Etienne begann zu lachen. »Und ich dachte, das ist wieder so ein abgefahrenes Designer-Outfit.«
»Nein. Obwohl«, überlegte Daisy laut und schaute kritisch an sich herunter, »jetzt, wo du’s sagst, das könnte sogar funktionieren, aber mit anderen Schuhen. Vielleicht mit so klobigen Motorradstiefeln. Und das hier ist in Wirklichkeit ein Männernachthemd, also glaube ich, man würde einen Gürtel brauchen, damit man es am Tag anziehen kann. Das würde auch viel schmeichelhafter aussehen, wie ein Hemdblusenkleid oder so was. Aber ich hatte gar keine Zeit, über all so was nachzudenken«, beteuerte sie hastig, als ihr der Zweck ihres Besuchs wieder einfiel. »Ich wollte dich sehen. Es tut mir leid, dass ich so grässlich früh dran bin. Und außerdem natürlich auch grässlich spät.«
Etienne nickte lächelnd. »Mieux vaut tard que jamais.«
»Besser spät als nie? Ja, das finde ich auch.«
»Möchtest du Kaffee?«
»Ja, das wäre wunderbar.«
Sie versuchte, ihm in die Küche zu folgen, doch es wurde sehr bald klar – nachdem sie fast zusammengerumpelt waren, als Etienne nach dem Wasserkessel griff und feststellte, dass er sich undenkbar dicht an sie heranquetschen müsste, um an die Tassen und den Zucker heranzukommen -, dass dort nur Platz für eine Person war. Daisy nahm stattdessen am Tisch Platz.
»Wie geht es dir überhaupt?«, erkundige sie sich nach ein paar Augenblicken des Schweigens nervös.
»Ich bin gerade ziemlich erschlagen, glaube ich. Aber ansonsten gut«, antwortete Etienne und brachte die Tassen.
»Das ist super. Weil ich nämlich fand, in letzter Zeit hast du ausgesehen, als sei
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