Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
ihren leeren Korb und schlug den Heimweg ein. Seit einigen Tagen half sie ihrer Cousine, Schwester Clotilde, bei der Verteilung von Lebensmitteln an die armen Wesen, die sich in einem nicht enden wollenden Strom vor den Kirchen einfanden. Die Nahrungsmittel begannen knapp zu werden.
Als sie die Place d’Armes überquerte, erblickte sie ihren Bruder Guillaume, der in seiner schönen grauen Uniform mit den roten Tressen an den Waffenübungen teilnahm. Vor einer Woche hatte er verkündet, er werde in die Royal-Syntaxe eintreten, ein Regiment, das man aus Schülern des Jesuitencollegs aufstellte, nachdem dort wegen der besonderen Lage der Unterricht eingestellt worden war. Ihre Mutter wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Aber Guillaume, der sechzehn Jahre alt und begeistert von der Vorstellung war, für sein Land zu kämpfen, hatte ihr Gezeter und ihre Drohungen ignoriert. Jetzt lebten nur noch Ti’Paul und sie zu Hause. Glücklicherweise war Ti’Paul noch zu jung, um die Waffen zu ergreifen. Isabelle hütete sich wohlweislich, ihm zu verraten, dass schon Kinder von zwölf Jahren in die kanadische Miliz eintreten konnten.
Wie immer seit einiger Zeit verlief das Abendessen in gedrückter Stimmung. Justine kritisierte die Truppen des Kanadiers Jean-Daniel Dumas, eines kampferprobten Offiziers, der sich in der Schlacht am Monongahela-Fluss ausgezeichnet hatte. Seine Milizionäre beklagten sich unablässig über den schlechten Zustand ihrer Waffen und die fehlende Munition und forderten die gleichen Bedingungen wie die Männer in den regulären französischen Truppen, die den gleichen Dienst taten wie sie. Justine warf auch Montcalm seine Laxheit gegenüber dem Feind vor. »Man könnte glauben, er wartet, bis die Engländer die Stadt besetzen, um auch nur den kleinen Finger zu heben«, schimpfte sie.
Ti’Paul würzte das Gespräch, indem er lebhaft und in allen Einzelheiten die neuesten Horrorgeschichten wiedergab, die er auf der Straße aufgeschnappt hatte. Heute hatte er gehört, die Indianer hätten einige englische Soldaten gefangen, sie gefoltert und dann gegessen, woraufhin sie Bauchgrimmen bekommen hätten. Die Schreie der Opfer seien bis zu den Verschanzungen des Regiments von Lévis in Beauport gedrungen und hätten die ganze Nacht angedauert. Bei diesen Geschichten lief es Isabelle kalt über den Rücken, und sie zog es vor, nicht daran zu glauben.
Madeleine berichtete Neuigkeiten, die sie von Julien hatte. In den Lagerhäusern der Krone gingen die Nahrungsmittel rasch zur Neige. Wenn die Belagerung noch länger andauerte, würden die Engländer sie aushungern. Würden sich die Franzosen gezwungen sehen, wegen eines Stücks Brot zu kapitulieren? Worauf warteten sie denn noch, um anzugreifen? Montcalm hatte beschlossen, dass er abwarten würde, bis der Feind den ersten Schritt tat. Man vermutete, dass die Engländer unterhalb von Beauport eine Offensive starten würden: Englische Gefangene hatten Wolfes Pläne verraten. Wahrheit oder List? Die Lage wurde immer bedrückender. Die Soldaten konnten nachts kaum schlafen, schreckten beim kleinsten Geräusch hoch und schossen auf alles, was sich im Dunkel bewegte.
Merkwürdig still hörte Charles-Hubert zu, wie seine Familienrunde über diese Krise debattierte. Er selbst schien seinen gewohnten Elan verloren zu haben. Er aß langsam und in Gedanken. Immer noch gingen Gerüchte darüber um, dass Untersuchungen bezüglich der Bücher des Intendanten und seiner Getreuen im Gang seien. Der Hunger, unter dem die kleinen Leute litten, trug nicht dazu bei, die Gerüchte zu ersticken. Isabelle fragte sich, ob nicht das der Grund für die Niedergeschlagenheit ihres Vaters war.
Madeleine, die eins von Isabelles Kleidern trug, bewunderte sich im Spiegel. Der blutrote Florentiner Taft, der ihrem blassen Teint schmeichelte, raschelte bei jeder Bewegung angenehm. Lachend drehte die junge Frau eine Pirouette und vollführte einen Knicks vor Isabelle, die in die Hände klatschte.
»Was für ein Glück du hast, Isabelle, so viele schöne Kleider zu besitzen. Mein schönstes Kleid ist bloß aus Etamine und schon ganz abgetragen.«
Sie strich zärtlich über die Spitzen, die den Ausschnitt und die Ärmelaufschläge des Kleidungsstücks zierten. Cremefarbene Satinschleifen waren übereinander auf die Vorderseite des Mieders aufgesetzt. Hübsche, aus Silberfäden gestickte Schmetterlinge schmückten das Oberteil und den Rock, über den sich das vorne offene Kleid
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