Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
Am liebsten wäre er sogleich losgegangen, um nach seinem Lager in der Unterstadt zu schauen. Aber die Vernunft bewog ihn, nichts zu unternehmen. Das Schicksal kam über ihn wie diese Kanonenkugeln. Er war ruiniert …
Der Morgen dämmerte trüb herauf. Immer noch regnete Höllenfeuer auf Québec herab. Isabelle hatte, genau wie die ganze Familie, in dieser Nacht kein Auge zugetan. Alle hatten um ihr Leben und um Françoise und ihre Kinder, die am Marktplatz wohnten, gebetet. Dann waren da noch ihre drei Brüder, von denen nur Gott wusste, wo sie steckten. Jetzt rannte die junge Frau zusammen mit Madeleine, Baptiste und Perrine durch die Straßen, strauchelte im Schlamm und wich immer wieder mit knapper Not den zahllosen Kutschen und Karren aus. Die Stadtbewohner luden ihre Besitztümer auf, um zu fliehen.
Verrückt vor Sorge waren sie im ersten Morgenlicht dem feindlichen Beschuss zum Trotz aufgebrochen und hofften, Françoise und ihre Kinder heil und gesund wiederzufinden. Je weiter sie in Richtung Unterstadt vordrangen, umso mehr wuchs angesichts der schweren Schäden ihre Sorge. Die Fensterläden schlugen im Wind, der den Geruch der Zerstörung herantrug. Milizionäre gingen den unglücklichen, flüchtenden Einwohnern zur Hand und forderten sie schreiend auf, die Stadt zu verlassen. Dennoch war die große Kathedrale voller Menschen, obwohl sie ebenfalls schwer getroffen war. Isabelle bekreuzigte sich.
Auf der Coté de la Fabrique passierten sie das Haus der Witwe Guillemette. Drinnen war alles dunkel. Die Bourassas hievten eine Truhe auf einen Karren. Ein dickes Schwein, das wohl davongelaufen war und von Hunden verfolgt wurde, quiekte. Nur wenige Fuß von ihnen entfernt schlug ein Geschoss ein. Die junge Frau kreischte, wich den Trümmerstücken aus, die von einem Sims herabstürzten, und rannte weiter hinter Baptiste her. Eine verängstigte Katze flitzte vor ihnen vorbei und flüchtete sich in eine Toreinfahrt.
Endlich erreichten sie die Treppe, die in die Unterstadt hinabführte. Dort blieben sie stehen, wie vor den Kopf geschlagen durch den Anblick, der sich ihnen bot. Die Häuser waren durchlöchert wie Siebe und leerten sich zusehends. Eine kompakte Masse staubiger Menschen, deren Blicke Angst und Unverständnis ausdrückten, taumelte Hals über Kopf durch die Trümmerwüste, um dem Tod, der vom Himmel fiel, zu entfliehen.
»Hier kommen wir niemals durch!«, schrie Baptiste über den Tumult hinweg. »Wir müssen die Coté de la Montagne nehmen!«
»Gott schütze uns!«, murmelte Isabelle, als sie das gähnende Loch erblickte, durch das man in das Innere der Kirche Notre-Dame-des-Victoires hineinsehen konnte.
Während sie sich einen Weg durch die gegen sie anströmende Menge bahnte, musterte sie die Gesichter und suchte nach den Menschen, die sie kannte. Toupinet, Marcelline …
»Isa! Isa!«
Ganz unten an der Straße streckten sich Arme nach ihr aus und winkten hektisch.
»Da ist Françoise! Gott sei’s gedankt! Françoise!«, schrie sie voller Freude.
»Ja, und ich sehe Pierre und Anne. Sie hat den kleinen Luc auf dem Arm!«, bekräftigte Madeleine.
Françoise schob ihre Kinder vor sich her. Hinter ihr erkannte Isabelle Louis, der einen kleinen Karren mit ein paar Besitztümern zog. Ihnen war nur wenig geblieben; aber sie waren heil und gesund, das war die Hauptsache. Zutiefst erleichtert fielen sich alle in die Arme.
»Isa!«, rief Louis aus. »Ihr seid unverletzt, Gott sei Dank!«
Dann rückte er von ihr ab und sah sie forschend an. Seine angespannten Züge verrieten, dass er seit Beginn des Beschusses fast wahnsinnig vor Sorge gewesen war. Schließlich hatte er die Erlaubnis erhalten, nach seiner Familie zu suchen und sie in Sicherheit zu bringen.
»Papa geht es gut«, beruhigte ihn Isabelle. »Mama und Ti’Paul ebenfalls. Das Haus ist nicht getroffen worden; wie Monsieur des Méloizes es vorhergesagt hatte, liegt es außer Schussweite. Wie geht es Étienne?«
»Ihm geht es gut. Hast du etwas von Guillaume gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Bruder Guillaume war am Vortag mit einem Trupp Milizionäre aufgebrochen. Seine erste Mission hatte ihn an das Südufer des Saint-Laurent führen sollen, wo die Engländer kampierten. Er war schrecklich aufgeregt gewesen, aber Isabelle hatte seine Begeisterung nicht zu teilen vermocht. Seit seinem Aufbruch hatten sie keine Nachricht von ihm erhalten.
Françoise war in Tränen aufgelöst.
»Die Bäckerei, Isabelle … Alles ist
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