Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
wie die Glockentürme der majestätischen Kathedrale in einem Meer aus Flammen und Funken, die bis zum Himmel aufstoben, zusammengebrochen waren.
Auf welcher Seite stand eigentlich Gott? Viele Menschen deuteten dieses ganze Zerstörungswerk als schlechtes Omen. Diese ketzerischen Engländer versuchten, ihren Glauben zu bedrohen. Die Menschen beteten mit nie da gewesener Inbrunst.
Auch das Lager ihres Vaters war nicht verschont geblieben. Nur noch ein geschwärztes Skelett war von dem Haus übrig, das nicht einmal mehr die Plünderer interessierte, von denen es seit dem Beginn der Bombardierung nur so wimmelte. Auf dem Cap Diamant baumelten immer noch wie unheimliche Hampelmänner die Leichen zweier dieser elenden Diebe an dem Galgen, der über dem Fluss aufragte. Unter diesen Umständen wurde bei den Prozessen und der Hinrichtung der Angeklagten summarisch verfahren. Die öffentlichen Ausrufer hatten an allen vier Ecken der Stadt bekannt gemacht, dass Gouverneur Vaudreuil beschlossen hatte, jeden, der beim Plündern gefasst wurde, ohne Verzug vor Gericht zu stellen, zu verurteilen und zu hängen. Doch dies verhinderte keineswegs, dass die Zahl der Diebstähle stieg.
Das Elend und die Verzweiflung der Bevölkerung waren so groß, dass die Menschen bereit waren, für einen Kanten trockenes Brot fast alles zu tun … Erst gestern war eine Gruppe Stadtbewohner aus La Batiscan zurückgekehrt, wo Nahrung für die Truppen eingelagert war. Die armen Teufel waren mehr als zehn Meilen zu Fuß gelaufen, nur um sich ein wenig Essen zu verschaffen. Einige waren unterwegs an Entkräftung gestorben. Angeblich war ein junges Mädchen von einem der Soldaten, welche die Gruppe begleiteten, vergewaltigt worden. Wahrhaftig, der Wind des Sittenverfalls wehte durch die Stadt und zerstörte nach und nach die Hoffnung, den Tag der Befreiung noch zu erleben.
Isabelle seufzte. Momentan wohnte ihre Familie weiterhin in dem Haus in der Rue Saint-Jean, das Gottes Hand verschont hatte. Alle schliefen im Keller, dem einzigen sicheren Ort, wenn die Geschosse fielen. Die junge Frau ging in die Küche, um vielleicht ein kleines Stück Käse zum Knabbern zu finden. In dieser traurigen Zeit kam ihre Naschhaftigkeit ernsthaft zu kurz. Es war ein Glück, dass sie überhaupt etwas zu essen hatten. Auf der Arbeitsplatte entdeckte sie Karotten und einen halben Kohlkopf. Perrine war nirgendwo zu sehen. Doch in dem großen Topf kochten auf kleiner Flamme die andere Hälfte des Kohls und ein Stück Speck. Isabelle nahm eine Karotte und führte sie zum Mund; doch dann überlegte sie es sich anders und legte sie auf den Tisch zurück. Von diesen sechs Karotten mussten ebenso viele Menschen satt werden.
Vom Hof aus drang ein Kichern zu ihr. Sie ging zur Hoftür, die offen stehen geblieben war: Zwei Gestalten, die vom Obstgarten herkamen, traten in die Milchkammer. Die junge Frau erkannte Perrines kleine, rundliche Gestalt. Bei der anderen Silhouette, hochgewachsen und schlank, handelte es sich wahrscheinlich um einen Mann. Neugierig ging Isabelle hinaus, drückte sich an der Mauer entlang und schlich in der nächtlichen Dunkelheit bis zur Milchkammer. Wieder erklang Perrines warmes Lachen, und das eines Mannes antwortete ihr. Die junge Frau sagte sich, dass es sich nicht gehörte, die beiden auszuspähen, aber ihre Neugier war stärker. Sie ging zu einem Fensterladen, von dem sie wusste, dass dort ein Astloch im Holz einen Blick ins Innere des Anbaus erlaubte. Nachdem sie auf den Hackklotz geklettert war, zog sie den Astknoten, der wie ein Korken im Holz saß, heraus. Dieses geheime Guckloch hatte sie eines Tages entdeckt, als sie Verstecken mit Ti’Paul gespielt hatte.
Das Gelächter war verstummt; jetzt wurde drinnen geflüstert. Das Mondlicht, das durch die offene Tür eindrang, erleuchtete das Innere der Milchkammer. Deutlich erkannte Isabelle die Abortkübel, die an einer Wand aufgereiht standen, und die Waschschüssel, die darüber hing. Auf den Regalbrettern waren die Käseschalen und die Sahnekrüge sorgfältig von groß nach klein aufgereiht. Sidonie achtete darauf, dass immer alles an seinem Platz stand. Sie behauptete stets, die Zeit sei zu kostbar, um sie mit Suchen zu vergeuden.
»Lass uns schnell machen! Wenn jemand kommt…«
»Keine Sorge, Perrine … Es ist stockdunkel. Außerdem schlafen um diese Zeit alle.«
»Baptiste könnte trotzdem noch hier vorbeikommen.«
»Ach, lass doch Baptiste! Ich versichere dir, dass er sich taub und
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