Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
allerhöchsten Lagen und sanken dann wieder herab. Das An- und Abschwellen der Melodie wirkte wie eine Explosion von Farben und führte die sehnsüchtigen Herzen der Männer auf die Wege der Highlands und in die Täler, die sie vielleicht für immer verloren hatten. Alexander hatte seine Schnitzarbeit unterbrochen. Auch er war hingerissen von dieser Tonflut, die lange unterdrückte Bilder vor seinem inneren Auge vorbeiziehen ließ.
Reglos und von Gefühlen überwältigt, hatte er nicht bemerkt, dass MacCallum sich näherte. Der junge Soldat setzte sich neben ihn auf eine Taurolle. Er war ebenfalls fasziniert von dieser Musik, die selbst den Männern, die ihr hartes Leben abgestumpft hatte, die Tränen in die Augen trieb. Das Pulverhorn glitt Alexander aus den Händen und fiel hinunter. Abrupt kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Als er sich danach bückte, stieß er mit der Stirn gegen die Schulter von MacCallum, der ebenfalls danach gegriffen hatte. Verwirrt und Entschuldigungen stammelnd fuhren die beiden hoch und sahen einander an. Dann wandte MacCallum sich ab.
Über ihn waren allerhand Gerüchte im Umlauf. Inzwischen war allgemein bekannt, dass William MacCallum der Schützling von Evan Cameron war, der behauptete, der junge Mann sei sein Halbbruder. Doch man erzählte sich auch etwas anderes, das Alexander besonders störte. Er hatte gespürt, dass der Junge ihm eindringliche Blicke zuwarf, obwohl er getan hatte, als hätte er nichts bemerkt. Der Gedanke verdross ihn, dass MacCallum ihm irgendwelche … Gefühle entgegenbringen könnte, die für ihn widernatürlich waren. Doch Cameron, den die anderen Männer insgeheim als Sodomisten schmähten, verhielt sich nicht im Geringsten merkwürdig, obwohl er seine Zuneigung zu dem Knaben nicht verbarg … Vielleicht waren die beiden ja tatsächlich Halbbrüder, oder MacCallum war ganz einfach ein etwas weichlicher junger Mann, den zu beschützen sich Cameron zur Aufgabe gemacht hatte. Wenn dem so war, dann gab Alexander dem Bürschchen nicht allzu lange Zeit beim Regiment. Das Soldatenleben stellte selbst die abgebrühtesten Männer auf eine harte Probe. Wenn der Kleine nicht bei den ersten Kämpfen umkam, würde ihn der Wahnsinn ereilen.
»Der Griff ist sehr schön«, stammelte MacCallum und wies auf den Dolch, den Alexander am Gürtel trug. »Darf ich ihn anschauen?«
Alexander sah sich um, dann nahm er die Waffe ab und reichte sie ihm, wobei er sorgfältig darauf achtete, den Jungen nicht zu berühren. MacCallums Hände strichen über die Rankenornamente, die das Heft schmückten, und verhielten bei den Details.
»Hast du das geschnitzt?«
»Ja.«
»Und das Pulverhorn … machst du das auch für dich?«
Alexander sah auf den Gegenstand hinunter, von dem er ganz vergessen hatte, dass er ihn in der Hand hielt, und nickte.
»Arbeitest du manchmal auch für andere? Ich meine, gegen Bezahlung …«
Alexanders Halsmuskeln spannten sich an; er fürchtete, dies könnte ein ungehöriges Angebot sein. Die grauen Augen, aus denen der andere ihn ansah, waren von grünen Flecken durchsetzt; eine solche Farbe hatte er noch nie gesehen. MacCallum sah ihn so eindringlich an, dass er unruhig zu werden begann.
»Du willst mich bezahlen?«
»Mit Geld, Macdonald«, erklärte MacCallum mit einem wissenden Lächeln. »Was hattest du denn gedacht?«
Peinlich berührt stammelte Alexander etwas zur Antwort.
»Schön«, fuhr die hohe Stimme des anderen fort, »könntest du dann vielleicht schauen, ob du hiermit etwas anfangen kannst?«
Aus einem kleinen Lederetui, das an seinem Gürtel hing, zog er einen Sgian dhu 21 , dessen Griff aus geschwärztem Nussbaumholz bestand und ebenso glatt wie seine Wangen war. Alexander nahm ihn an und tat, als untersuche er ihn; er zögerte, die angebotene bezahlte Arbeit anzunehmen, weil er fürchtete, damit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Die Waffe war gut gefertigt. Ihre fein geschmiedete Klinge aus blauem Stahl war mit Sicherheit nicht aus einem zerbrochenen Schwert hergestellt worden.
»Der Waffenschmied konnte die Arbeit vor meiner Abreise nicht mehr beenden«, erklärte MacCallum und streckte die Hand aus, um seinen Dolch wieder an sich zu nehmen. »Aber wenn du keine Zeit hast …«
»Ich mache es«, versetzte Alexander und schloss die Hand um das Heft.
Einen Moment lang sah der Knabe ihn mit offenem Mund an. Dann verzogen seine Lippen sich zu einem Lächeln, was seinem von einer seidigen rotbraunen Mähne, die im Nacken
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