Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Isabelle … einen Sohn hatte!
»Mo chreach ! «, knurrte er, als eine Frau mit einem Hühnerkäfig ihm den Weg versperrte.
Er schlug die Augen nieder und stammelte ein paar Entschuldigungen. Dann nahm er erneut die Verfolgung auf. Aber Isabelle war zusammen mit dem Kind und ihrer Dienerin endgültig verschwunden. Jetzt erinnerte er sich auch, wo er die Indianerin schon gesehen hatte. In der Pension Dulong war das gewesen, am Tag vor seiner Abreise nach Grand Portage. Sie hatte ihm eine Nachricht von ihrer Herrin gebracht.
»Isabelle!«
Um ihn herum fragten sich die Menschen, wer wohl dieser Mann war, der so panisch herumbrüllte. Auch seine Begleiter, die hinter ihm zurückgeblieben waren, begriffen nicht mehr, was geschah.
Endlich blieb Alexander mitten auf der staubigen Straße stehen und ignorierte die neugierigen Passanten, die sich nach ihm umdrehten. Das Kind… mit seinen tiefblauen Augen und dem hellroten Haar… Das Nachdenken fiel ihm schwer, er kam nicht darauf, wie alt der Knabe sein mochte. Fünf Jahre? Sechs? In welchem Jahr war er geboren? War es möglich, dass …? Er war wie vor den Kopf geschlagen von der Erkenntnis, die ihm langsam zur Gewissheit wurde, und vermochte nicht mehr normal zu denken. Isabelle hatte die Wahrheit vor ihm verborgen. Sie hatte ihm nicht nur seine Seele gestohlen, sondern auch seinen Sohn. Denn anders konnte es nicht sein: Gabriel war sein Sohn. SEIN SOHN!
»Da soll man mich doch hängen wie einen Hund, wenn ich mich irre«, brummte er laut und warf einer Frau, die ihn ansah, als wäre er ein Verrückter, der aus dem Hospiz ausgebrochen war, einen vernichtenden Blick zu.
Am liebsten hätte er laut gebrüllt, den jungen Mann erwürgt, der ihn fasziniert musterte, oder den Stand des Fischhändlers mit Tritten malträtiert … Er war voller Zerstörungswut und hatte das Bedürfnis, seinen Zorn an den anderen auszulassen. Er wollte seinen Sohn, er wollte Isabelle … Sein Leben, das man ihm weggenommen hatte!
»God damn! «
»Hey, Wilder! Geh weg und ärgere andere Leute! Du jagst meiner Kundschaft Angst ein!«
»Pòg mo thòn! 47 «, gab er zurück und schlug sich mit der Hand aufs Gesäß.
Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon.
Isabelle war allein in Pierres Arbeitszimmer, in dem Halbdunkel herrschte. Mit kleinen Schlucken trank sie ihren Cognac, verzog das Gesicht und erstickte beinahe. Die Ausdünstungen des Branntweins ließen ihre bereits roten und angeschwollenen Augen tränen. Ihr drehte sich scheußlich der Kopf. Sie konnte es einfach nicht glauben: Alexander lebte! Er war nicht an einem düsteren Oktobertag von Indianern umgebracht worden. Er verfaulte nicht in einem Massengrab in den Wäldern, sondern war am Leben! Man hatte sie angelogen!
Ein weiterer Schluck verbrannte ihr Zunge und Hals. Sie hustete und hielt sich an der Rückenlehne des Ledersessels fest. Étienne – ihr eigener Bruder! – hatte Pierre berichtet, er habe seine Leiche gesehen und sogar persönliche Gegenstände von ihm vorgewiesen. Sie war sich ganz sicher, dass das Kreuz und der Dolch wirklich Alexander gehörten. Jetzt verstand sie rein gar nichts mehr. Hatte Étienne sich geirrt? Hatte er nicht richtig hingesehen ? Oder … Wie eine hinterlistige Schlange beschlich sie der finsterste Verdacht und schnürte ihr die Luft ab.
Sie stellte ihr leeres Glas auf der makellos aufgeräumten Platte des Schreibtisches ab und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Das Archiv … Vielleicht würde sie dort eine Antwort auf ihre Fragen finden … Wenn Pierre sie dabei überraschte, wie sie seine Dokumente durchwühlte, würde er ihr bestimmt eine heftige Szene machen. Aber das war nicht zu ändern. Sie musste es wissen, sie hatte ein Recht darauf.
Der Staub brachte sie zum Niesen. Sie öffnete eine Ablageschachtel. Sie enthielt so viele Papiere! Urkunden, Verträge, Testamente … Wo sollte sie suchen? Wie war gleich noch der Name dieses Hollandais gewesen? Van … Van irgendetwas … Herrje! Sie konnte sich nicht darauf besinnen, also überflog sie die Dokumente, die unter »V« abgelegt waren. Kein Name ähnelte dem, den sie suchte. Sie klappte die Schachtel zu und öffnete die mit der Aufschrift »M«. Weder Alexanders Vertrag noch sein Testament befanden sich darin. Dabei vernichtete Pierre für gewöhnlich keine juristischen Dokumente. Sie erschauerte und ahnte eine Verschwörung. Hatte Pierre ihr etwas vorgespielt, sie hinters Licht geführt? Nein…
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