Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Messer gezückt wurden. Nicht selten wurde jemandem ein Ohr abgeschnitten oder ein Auge ausgestochen.
Dennoch herrschte in der kleinen Gemeinschaft eine gewisse Ordnung. Jeder bekam eine Aufgabe übertragen. Das konnte die Instandhaltung der Gebäude sein, Holzhacken, Jagen, Fischen, die Pflege der Hunde, die im Winter die Schlitten zogen, oder die Errichtung neuer Blockhütten. Die Männer, die sich gern in der offenen Landschaft aufhielten, arbeiteten als Boten und hielten die Verbindung zu den benachbarten Handelsposten aufrecht. Und dann waren da noch diejenigen, die auf eigene Faust zu den Indianern gingen und versuchten, mit ihnen zu handeln.
Alexander teilte sich eine Hütte mit etwa zwanzig Männern, die auf übereinandergestellten Pritschen nächtigten. In der Mitte des einzigen Raums thronte ein eiserner Ofen. Das rustikale Mobiliar bestand aus einem Tisch und mehreren Bänken, die grob aus unbearbeiteten Baumstämmen zurechtgehauen waren. Der Hollandais hatte ihn, wahrscheinlich, weil er seinen Charakter kannte, mit der Jagd beauftragt, auf die er sich ausgezeichnet verstand. Durch diese Arbeit erlebte er kostbare Momente der Einsamkeit, in denen er dem lauten Treiben des Handelspostens entfliehen konnte. Während er auf das Wild lauerte, konnte er seinen Geist frei an andere Orte schweifen lassen. Gelegentlich führte ihn diese Reise sogar bis in die Berge von Glencoe. Merkwürdigerweise stellte er jedoch fest, dass die Sehnsucht, die er früher bei solchen Gedanken empfunden hatte, verblasste. Schottland schien ihm inzwischen eine so ferne Erinnerung zu sein…
Die Einsamkeit schenkte ihm Frieden, doch sie ließ auch schmerzliche Erinnerungen aufsteigen. Unweigerlich standen ihm irgendwann Isabelles Züge vor Augen. Um seine männlichen Triebe zu befriedigen und sich von dem Einfluss zu befreien, den die junge Frau immer noch auf ihn hatte, brauchte er dann eine heftige Begegnung mit einer Eingeborenen. Desillusioniert nahm er dann wieder sein Gewehr und ging in die Wälder, um wilde Tiere zu jagen und vor seinen Dämonen zu fliehen. So verlief sein Leben in Grand Portage während des Sommers 1764.
Anfang September begann die Handelsstation mit den Wintervorbereitungen. Für den, der keine ausreichenden Vorräte an Holz und Nahrung anlegte, würde die kalte Jahreszeit hart und lang werden. Außerdem mussten die Behausungen repariert und gegen die Kälte isoliert werden.
Wenn der Herbst begann, kehrten Gruppen von Voyageurs, die man »Männer des Nordens« nannte, von ihrer langen, gefährlichen und mehrere Monate dauernden Expedition zurück. Ihre Kanus waren besser an das feindliche Territorium im Norden angepasst als die größeren Boote, die die Wasserwege im Osten befuhren.
Von Grand Portage aus führte eine Route nach Nordwesten. Man fuhr zunächst den Pigeon-Fluss hinunter und gelangte dann in einem beschwerlichen Fußmarsch von neun Meilen zum Lac à la Pluie. Anschließend erreichte man, nachdem man ein Gebiet aus Nadelwäldern, kleinen Seen und Flüssen, die durch tief in Granit und Basalt eingegrabene Rinnen flossen, durchquert hatte, den Winnipeg-See und den Rivière Rouge.
Von dort aus eröffneten die Voyageurs neue Routen, an denen sie Handelsposten begründeten. Dies war der Anfang einer neuen Ära in dem florierenden Handel mit Pelzen. Die Hudson’s Bay Company, die seit jeher praktisch ein Monopol auf die Waldgebiete gehabt hatte, musste mit einem Mal feststellen, dass »ihre« Territorien von einer neuen Generation Händler überrannt wurden, die zu allem bereit waren, um sich einen Teil dieses lukrativen Marktes anzueignen. So begann ein erbitterter Wettbewerb, ja ein Krieg, der Jahrzehnte dauern sollte.
Der Herbst gefiel sich darin, dem Wald täglich neue Farben überzuhauchen. In ein paar Wochen würden dann die leuchtenden, warmen Nuancen verschwunden sein, und ein weißes, kaltes Leichentuch würde die Natur bedecken. Nur ein paar Gruppen von Nadelbäumen würden ihr tiefgrünes Kleid bewahren. Alexander saß auf einem Felsbrocken und betrachtete die ungezähmte Landschaft, deren Schönheit ihm den Atem verschlug. Er ließ den Blick über die schroffen Berge und dann über die Oberfläche des gewaltigen Sees gleiten und seufzte. Warum nur stieg im Herbst immer diese Nostalgie in ihm auf?
Er dachte an Coll, der auf dem Heimweg in die Highlands war. In diesem Moment musste sich sein Bruder mitten auf dem Ozean befinden, zwischen Himmel und Meer, deren Grau und Blau
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