Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Tierchen.
»Oh, wie niedlich!«, rief Louisette aus, die mit einem Stapel Handtücher eintrat. »Wo habt Ihr denn das Kätzchen her?«
»Ich habe es auf der Straße gefunden… Ah!«, unterbrach sich Isabelle, als sie laute Stimmen aus Pierres Arbeitszimmer hörte. »Ist mein Mann zurück?«
»Er unterhält sich mit Monsieur Étienne«, erklärte die Haushälterin, und ein Glitzern trat in ihre Augen. »Eure Paste ist fertig. Wollt Ihr gleich nach oben gehen? Soll ich Euch Badewasser wärmen?«
»Ähem … ja. Ist gut. Ich gehe sofort hinauf.«
Isabelle hätte Pierre gern von ihrem traurigen Erlebnis berichtet. Aber in dem Zustand, in dem sie sich befand, hatte sie keine Lust, Étienne zu begegnen. Doch als sie durch den Korridor ging, öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers einen Spaltbreit. Étienne, der erstaunt wirkte, sie zu sehen, schaute sie an und stotterte einen Gruß. Dann wandte er sich sichtlich verlegen zu Pierre um, der ebenfalls peinlich berührt wirkte.
»Seid Ihr schon lange zurück?«, erkundigte sich der Notar vorsichtig und sah seine Frau an, als versuche er, in ihren Zügen irgendein Geheimnis zu erraten.
»Ich wollte gerade nach oben gehen, um mich für heute Abend fertigzumachen, Pierre. Geht es Euch auch gut?«
»Ja …«
Étienne beobachtete die beiden schweigend aus seinen dunklen Augen.
»Ich wünsche euch einen schönen Abend.«
»Bleibst du nicht zum Essen, Étienne?«, fragte Isabelle mehr der Form halber, nicht weil sie es sich gewünscht hätte.
»Nein, ich werde erwartet. Vielleicht ein andermal. Danke, Isa.«
Er setzte den Hut auf seine staubige Mähne und ging hinaus. Ein leiser, enttäuschter Seufzer ließ sich vernehmen, und Louisette stieg mit ihren Handtüchern betrübt die Treppe hinauf.
Isabelle sah, wie Pierre zurück in sein Arbeitszimmer ging und sich matt die Augen rieb.
»Wenn Ihr zu müde seid, um zum Ball zu gehen, können wir auch zu Hause bleiben, Pierre.«
Dem Notar war in der Tat nicht danach, auszugehen und sich zu amüsieren. Étienne hatte ihm gerade einen entsetzlichen Bericht über seine Mission geliefert.
»Nein, meine Liebe«, gab er freundlich zurück. »Ein gutes Abendessen, und alles ist wieder im Lot. Ich habe seit heute Morgen nichts gegessen.«
»Das Essen wird um fünf aufgetragen.«
»Einverstanden. Ich räume noch auf. Soll ich mich dann mit einem Glas Wein zu Euch gesellen?«
Errötend wich Isabelle Pierres Blick, in dem eindeutiges Begehren stand, aus.
»Ich gehe mich fertigmachen und komme herunter, wenn ich wieder präsentabel bin.«
Pierre nickte und sah der anmutigen Gestalt nach, die die Treppe hinaufging. Er fragte sich, wie er seiner Frau sagen sollte, was er soeben erfahren hatte.
Seit dem Unfall am Nachmittag ging Isabelle die kleine Charlotte nicht mehr aus dem Kopf. Das Mädchen war Waise, und bis auf ein mageres Kätzchen würde niemand um sie trauern. Wie viele Mädchen wie sie, die in ihrem Leben nichts als Elend kennengelernt hatten, lebten auf den Straßen von Montréal oder Québec? Sicher, Isabelle war schon in Berührung mit dieser Welt gekommen, als sie in der besonders schwierigen Zeit während der langen Belagerung von 1759 den Notleidenden geholfen hatte. Aber wenn sie den zerlumpten Kindern auf der Straße begegnete, hatte sie sich immer vorgestellt, dass eine Mutter oder eine Tante sich um sie kümmerte. Wie naiv sie gewesen war! Alexander hatte recht: Sie kannte Hunger und Kälte nicht. Sie wusste nicht wirklich, was Furcht oder die Angst vor dem Tod waren, noch kannte sie die Gleichgültigkeit, die man entwickelt, wenn man täglich mit beidem umgehen muss. Was wusste sie schon vom wirklichen Leben, von der schwierigen Existenz der einfachen Leute?
Nur eine arme Bettlerin … eine Herumtreiberin weniger … So hatte sie es an der Unfallstelle gehört, und es hatte ihr übel in den Ohren geklungen. Aus Unwissenheit wurde Dummheit geboren, und die brachte Bösartigkeit hervor. Anscheinend hatten die Menschen das Bedürfnis, die Armut herablassend zu betrachten, damit sie sich selbst zu den Reicheren zählen konnten. Isabelle war überzeugt davon, dass nichts im Leben Zufall war: Gott hatte alles so eingerichtet. Also musste man sich damit arrangieren und alldem einen Sinn geben, um es zu rechtfertigen.
Aber welchen Sinn konnte sie Charlottes Tod geben, um ihr Gewissen zu erleichtern? Ob Charlotte wohl stahl, um zu überleben? Wie standen ihre Aussichten, diese Existenz hinter sich zu
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