Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
einmal zur Arbeit?«, fragte Isabelle erstaunt und zog die Knie an, um den jungen Mann nicht zu berühren.
»Begleitet Ihr Euren Mann denn nicht zu den Sarrazins?«
»Den Sarrazins? Ach ja … natürlich. Aber ich wusste ja nicht, dass Ihr… also …«
Er schenkte ihr ein entzücktes Lächeln und ergriff dann ihre Hand, obwohl sie versuchte, sie unter ihren Röcken zu verstecken. Nachdem er ihr sanft die Fingerspitzen geküsst hatte, sprang er behände aus der Kutsche. Er zog den Hut und verneigte sich.
»Bis heute Abend, Madame.«
»Bis heute Abend, Monsieur Guillot.«
Verwirrt sah Isabelle dem Mann nach, der in die Schneiderwerkstatt trat. Was war nur mit ihr los? Sie liebte Alexander, war mit Pierre verheiratet und schmachtete nach Jacques! Obwohl ihr Gefühlsleben bedrückend trist war, hatte sie sich bis jetzt geweigert, sich einen Liebhaber zu nehmen. Doch je länger dieser Zustand andauerte, umso einsamer und unausgefüllter fühlte sie sich. Sie brauchte das Gefühl, von einem Mann begehrt zu werden. Pierre seinerseits hatte inzwischen eine Geliebte, das wusste sie. Oft kehrte er spät von einer »geschäftlichen Besprechung« zurück und wagte dann nicht, ihr in die Augen zu sehen. Aber das ließ sie kalt. Für sie war die Hauptsache, dass er sich nicht öffentlich mit dieser Frau zur Schau stellte. Diese Demütigung hätte sie nicht ertragen.
Die Berline machte einen Schlenker, und sie fiel gegen die Tür. Basile brüllte etwas, und Leute schrien. Noch ganz in ihre Überlegungen versunken setzte Isabelle sich zurecht und wartete darauf, dass die Kutsche sich wieder in Bewegung setzte. Doch der Wagen blieb stehen, und das Geschrei auf der Straße ging weiter.
»Was soll denn dieser Radau?«, murmelte sie und beugte sich aus dem Fenster.
Neugierige drängten sich um den Wagen.
»Das ist doch nur eine arme Bettlerin!«, rief jemand.
»Pah, eine Herumtreiberin weniger!«, meinte ein anderer.
Basile war kreidebleich und diskutierte heftig gestikulierend mit einem Mann. Eine Frau rief um Hilfe; eine andere begann zu weinen. Neugierig und besorgt stieg Isabelle aus, um festzustellen, was da los war.
»Oh mein Gott«, stieß sie dann entsetzt hervor, als sie die verkrümmte Gestalt auf der Straße liegen sah.
»Madame! Madame! Ich schwöre Euch, ich konnte nicht ausweichen!« , jammerte der arme Basile, der den Tränen nahe war. »Sie ist ganz plötzlich aufgetaucht, und ich konnte nicht rechtzeitig anhalten!«
Das junge Mädchen stöhnte leise. Ihr Kopf sank zur Seite, und Blut rann aus ihrem Mund über ihre Wange. Isabelle beugte sich über sie und hob ihr Cape aus grobem Wollstoff hoch.
»Das Pferd … das Pferd hat sie getreten«, erklärte eine tränenüberströmte Frau. »Die arme Kleine!«
»Kennt Ihr sie, Madame?«
»J … ja, das ist die kleine Charlotte. Charlotte Sylvain, Madame.«
»Charlotte … Kannst du mich hören, Charlotte?«
Das junge Mädchen stöhnte, runzelte die pechschwarzen Augenbrauen und öffnete die Augen einen Spaltbreit.
»Das Hospital, Basile! Wir müssen sie ins Hospital fahren!«
»Das Hospiz ist näher, Madame. Bringen wir sie dorthin!«
»Madame«, rief die Frau, die ihr den Namen des Mädchens genannt hatte. »Das hier… gehört Charlotte.«
Sie reichte ihr ein schwarzes Kätzchen, das ängstlich miaute.
»Sie ist ihm nachgelaufen, damit es nicht unter eine Kutsche kommt«, erklärte die Frau und schniefte.
Isabelle biss sich auf die Lippen, dankte ihr und versprach, sich um das Tier zu kümmern, bis es dem jungen Mädchen besser ging.
»Kennt Ihr ihre Mutter? Ihr könntet ihr Bescheid geben …«
»Sie hat keine Mutter, Madame. Charlotte ist eine Waise und lebt von dem, was andere ihr geben. Sie hat wohl einen älteren Bruder, Paul. Aber der hat sich jetzt schon seit sechs Monaten nicht mehr blicken lassen. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist.«
»Ich verstehe … Danke.«
Mit Hilfe von zwei Männern setzte Basile die Verletzte auf die freie Bank der Berline. Dann schlugen sie rasch den Weg zum Hospiz ein, das bekannt dafür war, auch Bettler aufzunehmen. Nachdem der Wagen in die Rue Saint-Pierre eingebogen war, fuhr er in Richtung des Lachine-Stadttors, überquerte die Brücke, die über den Fluss führte, und erreichte endlich das ehemalige Armenhospital der Gemeinschaft der Charron-Brüder. Jetzt hatte Marguerite d’Youville das Gebäude übernommen, um dort ihre Kongregation wohltätiger Damen aufzubauen. Isabelle war noch nie dort
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