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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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winkt. Oder scheucht er mich fort? Ich höre aber nicht auf, drehe das Mädchen auf die Knie. Es ist Lilith. Er winkt und ich höre nicht auf – ich höre einfach nicht auf! Er applaudiert nun hämisch, er muss mich zutiefst hassen, es ist ja nicht das erste Mal. Aber ich kann einfach nicht aufhören, wir sind kurz vor dem Höhepunkt. Mein Kopf ist nur noch von dem einen Gedanken besessen, alles andere zählt nicht, ich bin ausgeschaltet, da berührt seine Hand meinen Rücken – und alles bricht aus mir heraus, schwallartig, ein Gallestrom, und plätschert tosend ins Wasser. Die Anspannung löst sich, die Zigarette fällt auf die Kacheln. Diesmal ganze Tränenströme im Spiegelbild, ich halte mich am Waschbecken fest, reibe mir mit den Handballen die Augen. Da steht er, Vater, grinst breit und hält mir eine seiner hochpotenzierten Tinkturen unter die Nase. Ich bin schon mal froh, dass es nicht Jan ist. Den Inhalt kippe ich in einer Bewegung hinunter, er schmeckt bitter, hinterlässt ein pelziges Gefühl auf meiner Zunge. Hinter mir ziehe ich die Zimmertür zu und sinke auf die Matratze. Ich bin eine Gefahr, das ist mir seit gestern klar. Wer nicht weiß, was er auf dieser Welt soll, ist zu allem bereit.
    Seit langem schon ist es dunkel. Vereinzelt durchbrechen Lastwagen die Stille. Vor knapp 48 Stunden habe ich das Zimmer zum letzten Mal verlassen. Ich habe mich den ganzen Tag kaum bewegt, habe mich nur in Notfällen von der Matratze aufgerichtet. Vom vielen Liegen schmerzen meine Arme und Beine. Bin ich aber einmal auf den Füßen, spüre ich, wie mein Gehirn besser durchblutet wird, spüre den frischen Sauerstoff, wie das Denken angekurbelt wird und plötzlich Welten zwischen mir und dem Einschlafen liegen. Ich muss mich irgendwie beschäftigen. Wenn ich nicht mit dem Tapferen Sniperlein das V2-Raketen-Szenario spiele, laufe ich im Kreis über die Kreidemarkierungen, die mich an das Vorhaben, irgendwann ein anderer zu sein, erinnern, an all die Leerstellen in meinem Zimmer und die in meinem Kopf. Bevor ich nicht weiß, wie ich sie ausfüllen soll, kann ich nicht wieder rausgehen.
    Tag 3. Heute ist es früh dunkel geworden. Ich habe das Fenster gekippt, um nicht mehr nur meine Ausdünstungen dreier Tage einatmen zu müssen. Ich stehe am Fenster und puste den Qualm durch den Spalt. Das Rauchen rhythmisiert meinen Tagesablauf. Es ist wie eine Uhr, die zu jeder vollen Stunde schlägt. Das ist die 26. Zigarette heute. Die erste habe ich noch liegend geraucht, die zweite bereits ins Terrarium geascht. Jan hat sich noch nicht bei mir gemeldet, auch Kim ist verschollen, hat nicht auf meinen Brief reagiert.
    Tagsüber bewege ich mich kaum. Einmal bin ich raus, wegen des Proviants und der Toilettengänge. Ich versuche jede Begegnung zu vermeiden. Im Gang traf ich Vater, gerade von der Praxis zurück. Wir blieben voreinander stehen, unsere Körpergerüche vermengten sich zu dem, was man Familie nennt. Seine Augen musterten mich von oben bis unten, als wäre ich eine seiner nackten Patientinnen. Er braucht abends immer eine Weile, bis er diesen Blick ablegt. »Junge«, sagte er, »Sauerstoff nicht vergessen.«
    Ich habe mich nicht weiter um ihn gekümmert, bin ins Bad, dann in die Küche. Vater wird schnell langweilig, das ist sein Naturell. Deswegen betrachtet er so obsessiv Gesichtszüge: um diese Leere irgendwie auszufüllen; er scannt Körperpartien nach charakterbildenden Furchen und Kanten, für deren Freilegung sein Handwerk sich erst eigentlich lohnt. Die Entwicklung des Menschen teilt er in Siebenjahresschritte ein, wobei am Ende eines jeden Jahrsiebts eine massive Veränderung eintreten soll. Er ist bestimmt der einzige Arzt seines Fachs, der auf dieser Grundlage Diagnosen stellt und danach chirurgische Eingriffe plant. Es ist das besondere und individuelle Ich, nach dem er sucht. Das bekräftigt er auch so vor Mutters Freundinnen in ihren wallenden Gewändern. Die erschrecken in solchen Situationen natürlich, drehen panisch ihre Hälse hin und her, um nicht den Gespenstern Falten und Cellulitis in die Augen schauen zu müssen. Schlimmer noch: weil sie von ihm erfahren haben, dass Verschlackung von untätigem Herumsitzen komme und das wiederum unweigerlich kraterähnliche Cellulitis und rasche Alterung der Haut zur Folge habe. Und so bestürmen sie ihn, den Arzt mit den markanten Zügen, und bitten um seine legendären Tegetmeyer-Tinkturen, zur Linderung von Tränensäcken und zur Optimierung des Charakters

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