Hikikomori
eigens entwickelt. Und schon ist die Langeweile für einen Moment verflogen.
Solange ich an die glücklichen Gesichter denke, die seine Praxis verlassen, kann ich nicht sagen, ob er mit seinen Theorien recht oder unrecht hat. Wenigstens lassen sie das, was er tut, sinnvoll erscheinen.
Die Straße ist menschenleer, aber weiter von der Straßenlaterne scharf ausgeleuchtet. Bis auf die Fenster von Karls Wohnung sind die der umliegenden Wohnungen dunkel. Bei ihm aber flackert es wie jede Nacht in unterkühlten Blautönen. Ab und zu sehe ich seine von Tag zu Tag unförmigere Silhouette durchs Zimmer huschen, vom Fernseher zum Regal, vom Regal zum kahlen Fenstersims. Er hat keine Blumen, die er gießen könnte. Wenn unsere Blicke sich treffen, zünden wir uns Zigaretten an. Er raucht stets schneller als ich, kippt dann das Fenster als Erster, schnippt den Stummel durch den Spalt in Richtung Blumenkasten. Er trifft. Ich bewundere ihn dafür. Dann schleppt er sich in die Tiefe des Raums zurück und lässt sich in den Sessel fallen. Ich kann nur erraten, dass es ein Sessel ist, denn wenn er sich fallen lässt, taucht er unter meinem Sichtfeld ab, legt sich flach in sein Grab.
Am 5. Tag habe ich das Gleiche gemacht wie gestern, und gestern das Gleiche wie vorgestern: essen, trinken, spielen, im Kreis laufen, Karl observieren, vor Anna-Maries Tür stehen.
Es ist spät. Tiefschlafphase. Vor einigen Stunden schon hat sie ihren Status zum letzten Mal aktualisiert. Ohne zu klopfen trete ich in ihr Zimmer ein. Da liegt sie: Anna-Marie, und schnauft. Die Bettdecke bis zur Nase gezogen, die Arme über der Brust gekreuzt. Sie friert schnell, fehlende Fettreserven. Ihr Gesicht ist wie aus einem Guss, unter der straffen, ebenen Haut bewegen sich feine Muskelstränge, ich sehe, wie ihre Augäpfel hin- und herrollen. Sie träume nicht mehr, sagt sie, seit Jahren nicht. Das liege an der Glotze und all den Internet-Verpflichtungen, sagt Vater, das sauge alle Träume auf. Der Fernseher am Fußende auf einem Schränkchen thronend, der Tablet-Computer auf dem Schreibtisch in Griffnähe. Die Stand-by-Lichter der Geräte pulsieren unruhig, die Bildschirme reflektieren ihr Zimmer dunkel getönt. Am liebsten würde ich sie packen, auf den Boden stoßen und zertreten.
Auf dem Nachtschrank findet sich neben Magazinen, alten, zusammengeknüllten Kassenbons und Kaugummipapieren das Foto von uns beiden: Bruder und Schwester, in schlichter Rahmung. Wir sitzen auf der Rückbank des Autos dicht beieinander, durch die Heckscheibe zu erkennen: eine schmale, zerklüftete Straße, flankiert vom Grün des Urwalds. Sie hat ein weißes, ich ein blaues Polo-Shirt an. Ich trage Vaters Strohhut, sie Mutters Pagenkopf. Ich spiele Großgrundbesitzer und lege den Arm um sie. Sie reicht mir gerade mal bis zur Schulter und macht eine verschmitzte Grimasse in die Kamera, ihre Augen strahlen, sie streckt die Zunge raus.
Plötzlich schnappt sie nach Luft und zuckt, so dass die Decke Falten wirft. Ich streiche sie wieder glatt, und als beruhige sie das, fällt sie ins gleichmäßige Schnaufen zurück. Vielleicht wird sie im Traum von unsichtbaren Händen unter Wasser gedrückt; diese Vorstellung hatte sie früher häufig: sie als das kleine Mädchen mit dem Erste-Hilfe-Köfferchen unter einer Oberfläche wie aus Milchglas, die sie nicht durchbrechen kann. Als wäre sie unter eine Glaskuppel gesperrt, die sie abtrennt vom Leben, sie isoliert von mir, der ich Vaters Arbeitsplatz mit Bleistiftgeschossen torpediere, bis er mir durch die ganze Wohnung nachjagt, mich – liebevoll, wie er sagt – zur Strecke bringt und verwundet; da liege ich nach Vaters Rache schwer verletzt und rufe nach ihr um Hilfe. Aber eine unsichtbare Macht hält sie fest, nimmt ihr die Luft, bis sie kurz vor dem Ersticken die Augen aufschlägt und stoßartig atmet.
»Hallo«, sage ich.
Sie wischt sich den Schlaf aus den Augenwinkeln. Für einen kurzen Moment sieht sie wie früher aus, schaut sie mich aus glasigen Augen liebevoll an. Dann passiert etwas mit ihr, schlägt ihr Ausdruck ins Gegenteil um, und ich beeile mich, schnell selbst zu sagen: »Ich gehe ja schon«, springe auf und lasse sie alleine zurück.
Lange sitze ich vor dem Bildschirm und hoffe, dass sie wenigstens in Form einer verschlüsselten Statusmeldung auf mich reagiert.
Selbst am 7. Tag in Folge lassen sie mich in Ruhe. Ich wache morgens auf und habe sie schon für Augenblicke ganz vergessen. Wenn alle verschwunden sind, hole
Weitere Kostenlose Bücher