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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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neben der Frau mit der Hochsteckfrisur nieder. Sie trägt eine dunkelblaue Bluse, eine feine Halskette schmückt ihr mageres Dekollet é . Sie haben in etwa das gleiche Alter. Die Haut der Frau glänzt im Licht der Sisal-Lampe vor Tanzschweiß und Aufregung. »Sind die echt?« Karola streicht ihr über die in die Haare eingearbeiteten Rosenknospen, lässt dann die Hand auf ihrem Arm ruhen.
    »Nein.« Die Frau stößt einen kurzen Lacher aus. »Aber danke, dass Sie Ihnen gefallen. Sie sehen auch schön aus. Wollen Sie eine Zigarette mit mir rauchen?«
    Oskar trägt Schweißband und einen lilafarbenen Trainingsanzug mit gelben Steifen. Die Wohnung ist hell erleuchtet, aus dem Wohnzimmer schallt Yeah Yeah Yeah von den Beatles.
    »Was ist denn mit dir los?« Karola streift sich im Stehen die Schuhe ab, hält sich dabei an der Wand fest.
    »Was soll los sein?«, sagt Oskar. »Wir werden auch nicht mehr jünger.«
    »Es ist mitten in der Nacht. – Und was hast du da für Zeugs an?«
    Oskar zuckt nur mit den Schultern. Karola zwängt sich an ihm vorbei. In der Küche mixt sie Naturjoghurt mit Tomatenmark, Pfefferminze und Ingwer, gibt eine Prise Salz dazu. Mit dem Rücken an die Anrichte gelehnt, trinkt sie und schaut aus dem Fenster in die schwarze Nacht.
    »Alles verkauft?« Oskar steht als lilafarbener Fleck im Türrahmen.
    »Am Montag kommen die Packer, der Raum wird danach leer sein.«
    »Wer war da?«
    »Alle.« Mit einem Löffel quetscht sie die Minze gegen den Glasboden.
    Oskar geht auf sie zu, schnuppert an ihr, sie weicht zur Seite aus. »Du hast geraucht.«
    »Steht das zur Debatte?«
    »Wenn dir nichts an der grauen Substanz liegt.«
    »An der was?«
    »An der Gehirnmasse, die so nebenbei bemerkt unser Aufmerksamkeitspotenzial beeinflusst. Das schrumpft zugunsten des Belohnungszentrums!«
    »Was willst du mir damit sagen?«
    »Du solltest ins Bett gehen.«
    Karola schaut ihn lange und befremdlich an, als wäre er eine undefinierbare Spezies, die, statt zu sprechen, über Schwingungen im Äther kommuniziert.
    »Du hast angerufen.«
    »Wir müssen eingreifen. So geht das nicht mehr weiter.« Oskar kratzt sich die schweißnasse Achsel.
    Karola nestelt eine Zigarette aus der Tasche. Unter Oskars vorwurfsvollen Blicken nimmt sie einen tiefen Zug, bläst den Rauch gen Küchendecke.
    »Lass es«, sagt Oskar. »Es ist auch meine Küche.«
    »Wenn es dich wirklich so sehr stört: Wir haben halt keinen Balkon, wo ich dich nicht mehr belästigen würde.« Karola leert das Mixgetränk, wischt sich über den Mund.
    »Sollen wir das auch noch machen? Hat alles andere nicht gereicht? Jetzt noch einen Balkon aus der Wand stanzen? Genau: Wir stanzen einen Balkon aus der Wand, damit die werte Dame sich um Jahre zurückqualmen kann!«
    Karola verschränkt die Arme, lässt Luft durch die Lippen entweichen. Aus dem Wohnzimmer schallt nun Ob-La-Di, Ob-La-Da . Karola raucht die Zigarette hastig, drückt sie im Löffel aus und eilt zielstrebig, so dass die Dielen unter ihren Schritten ächzen, ins Wohnzimmer. Mit einem Knall aus den Boxen hebt sie die Nadel des Plattenspielers an.
    Auf dem Wohnzimmerboden sind Trainingsmatten ausgebreitet. Karola begutachtet sie, bis Oskar hinzukommt und deplatziert im Raum stehen bleibt. Sie stehen sich nun gegenüber, nur eine Trainingsmatte trennt sie noch: »Er hat geschrien und Laute wie ein Tier von sich gegeben.«
    »Warum bist du dann nicht rein?«
    »Ich habe ihm gedroht, die Tür einzuschlagen – da war es dann still. Für eine Weile. Dann hat es wieder angefangen: die Schüsse, wieder diese Schüsse! Und gleichzeitig, ich weiß nicht, wie er das macht, hat er begonnen, an der Tür zu scharren. Als ob er eingesperrt wäre, ihm Krallen gewachsen seien und er hinauswolle, aber nicht könne. Aber er kann doch, Karo.« Er verlagert das Gewicht vom linken auf das rechte Bein: »Wir haben Ende Oktober, stell dir das mal vor!«
    »Aber ihm tut das immer noch gut«, sagt Karola etwas unentschlossen. »Junge Menschen brauchen doch ihre Zeit.«
    »Ja, ja, ich weiß.« Oskar verdreht die Augen. »Aber Till braucht keine Symbiose.«
    »Wie meinst du das?«
    »Junge Menschen brauchen ihre Zeit, das heißt aber auch, sie müssen sich irgendwann abkapseln, nicht wie Parasiten an einem Wirt kleben, sich so lange von diesem ernähren, bis der Wirt krepiert. So einfach ist das.«
    »Was soll das heißen? Till der Parasit, oder was?«
    »Na ja, der Parasit kann ohne Wirt nicht überleben. Der Parasit ist von

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