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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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meine, er wartet bestimmt jeden Tag, dass du dich wieder bei ihm meldest.« Sie lauscht einen Moment, das Ohr ans Türblatt gedrückt. »Sag was. Oder schieb einen Zettel unten durch. Schreib, was du denkst. Gib uns ein Zeichen, damit wir wissen, wie es weitergeht. Es wird bald Winter. Die Tage werden kürzer. Und kälter. Und der Wind. Der wirbelt so schön das bunte Blattwerk auf. Dein Lieblingsherbst steht vor der Tür! Wir könnten wieder darin herumtollen, wie früher! Oder etwas anderes machen, Hauptsache, es macht dir Spaß. Etwas frische Luft, egal, etwas Bewegung kann nicht schaden, sagt Oskar. Ja? Er macht sich wirklich Sorgen. Irgendwann wird es sonst ungesund. Und du willst ja nicht, dass wir den Notarzt rufen müssen, der die Tür aufhebelt und dann bescheuert in deinem Zimmer steht, obwohl es dir doch blendend geht und du sicher irgendwann von alleine herausgekommen wärst.« Sie hält inne, Oskar gibt einen Ton von sich, als wäre ein Krampf in ihn gefahren. »Vielleicht ist es jetzt so weit. Ja, ich denke, Junge, dass es so weit ist. – Komm, es ist jetzt schon die Geschichte deines Lebens. Ich meine, wer hat sich denn derart bewiesen, wer hat etwas so Radikales durchgezogen!« Sie lauscht wieder für eine Weile. »Ja? Jetzt komm, dreh den Schlüssel um. Ja? Dreh ihn um, komm raus, lass dich feiern. Oskar ist auch da. Du hast nichts zu befürchten, keine Strafe, nein. Ja? Scheiße. Till. Till?« Sie klopft erst leicht, dann immer fester an die Tür. »T ill? Till, du willst doch nicht, dass es so endet? Wir sind immer noch stolz auf dich. Aber jetzt komm wirklich raus. Ja? Till. Jetzt komm endlich aus diesem verdammten Scheißzimmer raus. Hast du mich gehört?! Verdammte Scheiße, der Spaß ist jetzt echt vorbei. Till? TILL ! KOMM ENDLICH AUS DIESEM VERDAMMTEN LOCH RAUS !«
    Sie wendet sich erschöpft ab, starrt für lange Zeit auf ihre zitternden Hände.
    Oskar ist über ihr erschienen, sie schaut ihn von unten nach oben an, ihre Augen glasig. Oskar trägt jetzt Straßenschuhe.
    »Was hast du vor?«, flüstert sie schwach.
    »Ich gehe in den Keller.«
    »In den Keller?«
    »Ich stelle ihm die Heizung ab.«
    »Es ist Oktober.«
    »Es wird noch früh genug kalt werden.«
    »Weißt du überhaupt, wie das geht?«
    »Das werde ich schon herausfinden.«
    Oskar schaltet die Lichter hinter sich aus, als er die Tür zum Treppenhaus aufstößt. Karola bleibt im dunklen Gang zurück, mit dem Rücken gegen Tills Zimmertür gelehnt, in der Hand eine Zigarette. Nur aus dem Zimmer der Schwester fällt noch ein schmaler Streifen Licht in den Gang. Karola spielt gedankenverloren mit der Zigarette, lässt sie von Finger zu Finger wandern. In einem Ruck wird die Tür zum Zimmer der Schwester zugezogen, die letzte Lichtquelle ist versiegt. Dunkelheit. Karola lässt die Zigarette aus der Hand auf den Boden gleiten, als fehle es ihr an Kraft, sie festzuhalten, dicht vor den Türspalt. Sie tastet nach der Schachtel, holt eine zweite Zigarette hervor und steckt sie sich vorsichtig zwischen die Lippen. Dann fasst sie nach der Zigarette am Boden, rollt sie lange hin und her, als könne man sie so noch gleichmäßiger formen. Nach einer Weile gibt sie ihr einen Stoß, so dass sie unter dem Türspalt verschwindet. Karola zückt das Feuerzeug, hält es griffbereit, wartet. Sie wartet, sie ist sehr angespannt, kann aber keinen Laut, kein Zeichen vernehmen. Die Finger haben wieder zu zittern begonnen. Die Dunkelheit dehnt sich ins Unendliche. Die Zeit scheint nicht zu vergehen. Erst als schwere Schritte im Treppenhaus widerhallen, hört sie ein Klicken ganz dicht hinter ihrem Rücken. Denn dreht auch sie am Zündstein: erst Funken, dann Flamme, dann Glut.

14
    Vierzehn Grad, Tendenz fallend.
    Wenn ich auf der Matratze liege, ist Nacht. Wenn Nacht ist, denke ich viel an Kim. Ich tue das sehr bewusst, um sie nicht gänzlich aus meiner neuen Welt auszuschließen und ihr einen zukünftigen Platz darin zu sichern. Darum katapultiere ich mich weit aus meinem Zimmer heraus, suche nach einem Abdruck, den Kim vielleicht irgendwo hinterlassen hat. Weit über dem Block schwebend sehe ich die Stadt unter mir, vielleicht ist helllichter Tag, auf den Karosserien funkelt die Sonne, spiegelt sich der blaue Himmel, sitzen die Menschen vor den Cafés, Tassen und Gläser wie winzige Noppen vor sich auf den Tischen. Ich höre ihre Stimmen, sie dringen bis zu mir herauf, so freudig und ausgelassen sind sie. Es muss ein strahlend heller Spätsommertag

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