Hikikomori
Die Schafe weiden um mich herum. Ich ziehe die Beine eng zu mir heran, betaste meine Fußsohlen: Hornhaut. Zu meiner Rechten finde ich einen saftigen Pilz, den ich, da ich Hunger verspüre, gleich roh esse und meine Lebensenergie so auffrische. Die Sonne läuft langsam dem Horizont entgegen und taucht die Landschaft in warmes Rotviolett. Die Schafe unterbrechen das Grasen, heben die Köpfe. Vögel flattern zu ihren Nestern in den Brokkoli über mir. Die Tage scheinen hier kurz zu sein. Gleich ist es dunkel. Ein dunkelblauer Schleier legt sich über die Umgebung, es ist merklich kälter geworden und das Hungergefühl steigt stetig an. Ich hätte den Tag über mehr essen sollen. Wenn es Nacht wird, sollte die Lebensenergie hoch sein, kräftig sollte man sein. Wenn es Nacht ist, sollte man eine Behausung haben.
In meiner Wahrnehmung verschwindet zuerst das Blöken, dann die Schafe. Ich springe auf, eile zum Rand des Hochplateaus. Alle Tiere scheinen die Welt verlassen zu haben. Ich höre ein Rascheln und ein angestrengtes Schnaufen vom Tal her. Da steht es vor mir, ein dunkler grunzender Schatten mit rot funkelnden Augen, der mich wie ein Zombie anfällt. Ich habe keine Waffe, also wehre ich mich mit meinen Fäusten, hämmere so lange auf seinen Schädel ein, bis er entzweibricht. Ich bin stolz auf mich, mit bloßen Fäusten den Feind besiegt zu haben, obwohl ein Großteil meiner Energie dabei verloren gegangen ist. Ein Schwächegefühl ergreift Besitz von mir. Mir scheint, als zittere ich. Bis auf das spärliche Licht, das der Mond spendet, ist es stockfinster. Ich stolpere zum Brokkolibaum, einen zweiten Kampf würde ich nicht überleben. Schnaufgeräusche dicht hinter mir, klettere ich in einem letzten Kraftakt in die weit ausladenden Röschen hinein. Ich zittere vor Kälte und Anstrengung. Auch die Vögel nächtigen hier in ihren Nestern. So voll der Vorfreude auf die kommenden Wochen bin ich, zugleich aber auch so müde, dass ich die Augen nicht mehr offen halten kann und unter den blinkenden Sternen zum ersten Mal zufrieden einschlafe.
Elf Grad, Tendenz fallend.
Mit Essen werden wir weiter versorgt. Mutter telefoniert lautstark im Gang mit ihren Freundinnen. Irgendein Nachbarskind habe sich eingeschlossen. Seit über einem halben Jahr! Sie geben ihr Ratschläge, die sie an die Nachbarsmutter weitergeben soll. Da sie zu schwach ist, die Ratschläge zu befolgen und dem Jungen die Nabelschnur durchzutrennen, droht sie bloß und sagt: »Streng dich wenigstens an, wenn du dich blicken lässt, dann müssen wir baff sein, dann musst du Großes vollbracht haben.« – Wir nicken, sie hat nicht unrecht.
Seit einigen Tagen streiten sie, wann immer sie zur selben Zeit in der Wohnung sind: Vater ist anscheinend von seinen neuen Trainingsgeräten nicht mehr herunterzubekommen, er vertritt lautstark die Überzeugung, er habe sein Soll erfüllt, sie wirft ihm vor, er lasse sie mit dem Problem, mit mir, alleine. Ich ruhe derweil auf der Bank vor meinem Baumhaus hoch oben in den Brokkoliwipfeln und schaue ins weite Land. Um voll und ganz hier sein zu können, trenne ich den Kot vom Urin. Den Urin sammele ich in Plastiktüten, den Kot vermenge ich in einem Eimer mit Rindenmulch. Der Kompost wird schon bald ertragreiche Erde abwerfen, so habe ich auf der Website von Garten-Pur gelesen. Um das Gezeter zwischen dem Baumhaus und der alten Welt abzuschalten, stülpe ich mir die Kopfhörer übers Ohr, drehe Welt 0 voll auf: erst Stille, dann das Zirpen einer einsamen Grille. Das Weideland hat einen eigenartigen Blaustich bekommen. Dennoch ist es herrlich, mitanzusehen, wie alles wächst und gen Sonne treibt, die Bäume und das Getreidefeld, auf dem ich regelmäßig ernte, die Schweine und Kühe, die ihre Rücken im Liegen der niedrig stehenden Sonne zuwenden, denen ich Fleisch und Leder entnehme. So sehr ich hier auch wüte, die Kraft der Natur ist tausendfach stärker, niemals könnte ich ihr wirklich Schaden zufügen.
Die ersten Tage habe ich hauptsächlich Ressourcen gesammelt und mich von Pilzen und Beeren ernährt. Nachts schlief ich bei den Vögeln in den Brokkoliröschen. Irgendwann kam ich auf die Idee, dass man die Ressourcen kombinieren könnte, um Werkzeuge oder noch Komplexeres zu erhalten. Ich reihte beispielsweise 3 Holz nebeneinander auf und bekam sodann eine Werkbank. Mit dieser kann ich bis zu zwölf Elemente kombinieren. Das müsste reichen. Aus Holzelementen werkelte ich Bretter, die ich erst als Sprossen an den
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