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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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sein, vielleicht der letzte vor dem Herbst, dann Winter. Da ist der Popperbrunnen, umringt von einigen Schülern, die ihre Wasserpistolen bis zum Anschlag aufziehen. Dort schieben sich Autos in langsamen Kolonnen durch die Stadt. Die Boxen der Menschen sind hell ausgeleuchtet, wirken wie auf Hochglanz poliert. – Nur mein Zimmer fällt heraus. Ein schwarzes Karzinom, das von dem restlichen gesunden Gewebe abgestoßen, von den Experten jedoch nicht aus den Augen gelassen wird. Das zwar nicht sichtbar wächst, noch nicht auf die benachbarten Zimmer-Zellen übergreift. Das aber, wenn man genau hinschaut, in sich zu wuchern beginnt, das auf den ersten Blick vielleicht schwarz und bedrohlich wirkt, aber auf den zweiten so, als schimmere etwas Neues durch dieses Schwarz hindurch, als läge noch etwas Unsichtbares dahinter. Ich zoome da hinein, tief ins dunkle Schwarz – da ist der Umriss der Matratze. Da lag sie. Zur Seite, zu mir gedreht, die Beine leicht angewinkelt, die rechte Hand unter den Kopf geschoben. Ich zoome noch weiter hinein, bis wenige Zentimeter über der Matratze. Aber noch kann ich das Bild von ihr nicht scharf stellen, als sei mein Geist noch zu ungeschult und verzerre ihr wahres Abbild bloß. Wie war ihr Geruch? Ich strecke meine Arme aus, um sie zu ertasten, aber die Nacht bleibt schwarz und leer. Ich falle auf die Matratze zurück, schwitze. Vielleicht, weil ich auffällig geatmet habe, knackt es in der Ecke, tippeln winzige Schritte in meine Richtung. Grün schimmernde Schuppen. Ganz dicht, ganz nah.
    Ein Zupfen an meinem Finger. Das Tier will, dass ich die Augen öffne, mich aufrichte, seine Sonne zum Strahlen bringe. Kim ist irgendwo hier, schießt es mir durch den Kopf, das darf ich nicht vergessen. Ich muss sie nur finden, ins Zimmer holen. Ich recke mich, strecke die Glieder. Das Tier klettert hastig auf den Schreibtisch, starrt auf den Bildschirm, so lange, bis die Sonne hochfährt. Auf der Straße ist es nun wieder erstaunlich ruhig, als würden zwischen meinem Zimmer und draußen diverse Zeitzonen verlaufen, als wäre jenseits unserer Mauern ein ferner, an andere Regeln gebundener Ort. Fahre ich den Rechner hoch, beginnt unser Tag.
    Heute ist ein Arbeitstag. Der neue Rechner ist vor wenigen Tagen eingetroffen. Er müsste kräftig genug sein, eine kleine erste Welt zu tragen. Da ich von uns dreien die meiste Zeit online sei und man sich auf mich verlassen könne, wurde mir die Aufgabe übertragen, die neue Welt 24 / 7 am Laufen zu halten. Würde ich den Computer ausschalten, verschwände auch die Welt schlagartig. Ich öffne das Programm Minecraft und werde gleich als Erstes gefragt, wie ich denn meine Welt nennen möchte und ob sie für jedermann offen sei. Natürlich soll sie für jeden zugänglich sein, bejahe ich durch ein simples Häkchen. Das Tier, genauso neugierig wie ich, wartet gespannt, welchen Namen ich der neuen Welt geben werde.
    Mit dem Namen steht und fällt alles, er wird zum prägenden Merkmal werden, authentischer als das, was er bezeichnen wird. So wie »T ill« zu meinem Gefängnis geworden ist, weil alle immer daran erinnert werden, dass ich mich angeblich nicht unter Kontrolle habe, muss ein Name doch auch befreien können. Wie ein Gemälde ohne Leinwand, oder ein Lied ohne Noten, oder ein Name ohne Inhalt, oder eine Welt ohne Menschen, oder eine Zahl ohne Wert – tippe ich 0 in den Computer ein. Das Tier nickt sichtlich beeindruckt.
    Von oben gesehen ähnelt Welt 0 einem weißen Blatt Papier. Ein weißes Nichts, das ich in gottgleicher Vogelperspektive überfliege. So muss ein jeder Anfang sein. Das Programm Minecraft fragt, wie ich weiter verfahren möchte, ob das Programm eine zufällige Welt erstellen solle, die ich dann mit meinen Freunden besiedeln könne, oder ob ich mich der Grundbausteine bedienen möchte, um selbst eine Landschaft zu entwerfen. Bevor ich auch nur darüber nachdenken kann, hat das Tier bereits wie wild über die Tastatur gekratzt und den Ja-Knopf aktiviert . Ich fahre mit der flachen Hand über die Tastatur, als wären die Tasten die Gänsehaut eines geliebten Menschen, und leite so einen beachtlichen Elemente-Schauer auf die noch weiße Fläche ein. Als würde das Blatt mit grünen, braunen, blauen Farbspritzern besprenkelt, baut sich die Landschaft unter mir auf: B schichtet Erde zu Bergen, T rückt Bäume zu einem Wald, schnell zu einem Urwald, K verteilt Mineralien, Y Blumen und Früchte, W zieht Wasseradern, kreiert Seen und Flüsse,

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