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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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Binnenmeere. Alles außerhalb meines Radius bleibt unbeschrieben weiß, kann zu einem späteren Zeitpunkt, vielleicht von anderen, mit Landschaft versehen werden.
    Es ist ein unkompliziertes Programm, das ich verwende. Ich bin kein Computer-Nerd, habe nie eine Programmiersprache gelernt. Heutzutage bedarf es nur weniger Tutorials, um eine Welt in weniger als sieben Tagen zu erschaffen. Sanfte Hügelketten gehen in schroffes Gebirge über, Flüsse schließen sich netzartig zu Seen zusammen, dort hinten breiten sich dichte Wälder aus, daran angrenzend wüstenartige Sandflächen. Bereits jetzt ist es um das Tausendfache imposanter, als was wir in der gesamten Schulzeit mühsam aus Schuhkartons basteln oder aus morschen Ästen schnitzen mussten. Bevor ich die eigentliche Welt betrete, aktiviere ich noch Tag und Nacht, aktiviere Nutz- und Haustiere, aktiviere Gut und Böse. – Wie ich denn Gut und Böse verteilen möchte, werde ich von Minecraft gefragt. – Welt 0 ist weder gut noch böse, antworte ich, also die Leerstelle dazwischen. – Ergo 50–50, schlägt Minecraft vor. – Na ja, sage ich, eher der Bindestrich. Minecraft überlegt, dann stimmt es zu, gibt die Welt frei: 0.
    Ich bin allein und nackt. Um mich herum weites hügeliges Grün. Blauer, wolkenloser Himmel, sich zum Horizont hin aufhellend. Bäume und Büsche willkürlich verstreut. In der Ferne ein See oder ein sehr breiter Fluss. Im Gras wachsen gelbe, sechsblättrige Blumen. Das Gras raschelt monoton unter meinen Schritten. Vogelgezwitscher um mich herum. Die Landschaft steigt nicht sachte, sondern blockweise an, da hier alles wie aus Legosteinen zusammengesetzt scheint, jede einzelne Graspartie, jeder Erdhaufen. Ich muss springen, um eine Stufe höher zu gelangen. Der Baumstamm ist wohl aus fünf holzartigen, die Baumkrone etwa aus zwanzig blättrigen Blöcken. Ich grabe intuitiv mit bloßen Händen in der Erde, trage so einen Block ab und erhalte in einer separaten Inventarleiste 1 Erde . Die Welt lässt sich ab- und aufbauen, schießt es mir durch den Kopf, wie ein unendlich formbarer Lehmklumpen. Dasselbe mache ich mit dem ersten Baum, der mir im Weg steht, indem ich auf dessen Krone steige und ihn von oben nach unten abernte, bis nur noch der Stumpf übrig bleibt, auf dem gleich darauf ein Pilz zu wachsen beginnt. In der Inventarleiste erhalte ich 16 Blätter und 4 Holz (unbearbeitet) . Die bloßen Hände von mir gestreckt, hüpfe ich von Stufe zu Stufe, besteige weitere Kronen, baue hier und da Elemente ab, ohne zu wissen, was ich mit ihnen anfangen werde. So durchstreife ich die Gegend, immer bergauf, füge noch 8 Steine , die ich von einem Felsen ernte, dem Inventar hinzu, bis ich mich nach einer Weile auf einem Hochplateau befinde, weit über dem Tal, in dem ich zufällig die Welt betrat.
    In der Mitte des Plateaus wächst ein einzelner Baum in die Höhe, der mich an einen überdimensionalen Brokkoli erinnert. Als ich näher komme, merke ich, dass es tatsächlich ein riesenhafter Brokkoli ist, der die übrigen Bäume um das Vielfache überragt. Wenn ich mich sehr konzentriere, vernehme ich den süßlichen Duft, den er verströmt. Sein Stamm ist hellgrün und mündet in großen Ästen, an deren Spitzen sich bauschige Röschen ballen. Soweit ich sehen kann, ist dies der höchste Punkt der gesamten Umgebung. Wenn ich in die Wipfel schaue, sehe ich die Sonne durch die Blätter scheinen. Blicke ich lange genug in den Himmel, kann ich sie wandern sehen und den beinahe unmerklichen Wechsel der Himmelsfarben beobachten. Um den Baum herum weiden Schafe und blöken in unregelmäßigen Abständen. Ich mag Schafe. Sie erinnern mich an die Schaffelle, auf denen ich als Kind immer geschlafen habe. Der Geruch nach Stall, das ungemütliche Kratzen, die einfache Wärme, die ein Fell spendet. Die Schafe haben keine Angst vor mir, heben kurz die Köpfe, geben ein ulkiges Geräusch von sich, grasen dann unbeirrt weiter. Auf der anderen Seite des Plateaus öffnet sich die Landschaft. Es geht steil bergab, dunkle Adern durchziehen das Felsmassiv, das müssen die Mineralien sein. Ich merke erst jetzt wirklich, dass ich mich auf der Spitze eines hohen Berges befinde. Unten im Tal sehe ich andere Tiere. Kühe. Aus den Baumwipfeln steigen Vögel auf, die ihre bunten Federn massenweise bei jedem Flügelschlag verlieren. Weiter in der Ferne ein wild wachsendes Getreidefeld, rosafarbene Punkte könnten Schweine sein.
    Rücklings lehne ich mich an den Stamm des Brokkolis.

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