Hikikomori
legt erst die Hand, dann das Ohr auf den Bauch. »Es atmet noch. Ganz leicht, kaum spürbar, in weiter Ferne. Es bedarf etwas Wärme.« Und er hebt den Kopf und sagt zu Till gewandt: »Keine Angst, Junge, deinen Freund holen wir wieder zurück unter die Lebenden.«
Till wischt sich über die Wange. Anna-Marie legt Holzscheite nach.
»Kalzium, Anna-Marie.«
»Kalzium?«, fragt Kilian.
»Es hat die Gicht«, sagt die Schwester.
»Die Gicht? Ist die nicht ausgestorben?«
Oskar knetet die Gelenke: »Nein, nein. Da hat deine Freundin schon recht. Gut diagnostiziert, total eingegichtet, die armen Gelenke. Und warum benötigen wir Kalzium, Till?«
Till ist wie die anderen dicht an das Reptil herangetreten: »Weil das gegen Erfrierungen hilft?«
»Weit gefehlt. – Anna-Marie, dein Tipp?«
»Weil das Kalzium-Phosphor-Verhältnis nicht stimmt, der Harnsäurestoffwechsel ist gestört.«
»Gründe?«
»Falsche Ernährung, Gefangenschaft, fehlende Sonne zur Vitamin-D3-Produktion.«
»Schwesterchen, woher weißt du das?« Till ist sichtlich erstaunt.
»Leistungskurs Bio.« Sie strahlt. »Vitamin D3 braucht es zur Anregung des Kalziumstoffwechsels. Siehst du, es hängt alles miteinander zusammen.« Sie strahlt noch mehr.
»Ich weiß«, murmelt Till kaum verständlich.
Oskar klopft der Schwester auf die Schulter. »Dann hol doch bitte das Kalzium-Vitamin-D3-Präparat aus dem Tegetmeyer-Erste-Hilfe-und-Aufpäppelung-Fach und leg dem armen Kerl eine intravenöse Infusion.«
Kilian schaut ihr stolz hinterher, beobachtet, wie sie verschiedene Fächer der Kommode öffnet und die notwendigen Utensilien nacheinander auf einem sterilen, metallischen Tablett ausbreitet: die Kalzium-Lösung, ein Infusionsbeutel, ein gekrümmter, spitz zulaufender Schlauch, den sie aus der Verpackung befreit und an den Beutel anschließt, ein Gläschen mit Vitamin-D3-Extrakt.
Till kniet neben dem Reptil und streichelt sein Haupt: »Gicht?«
»Ja, mein Sohn, gleichfalls Rachitis genannt. Und du könntest auch ein paar Kalzium-Infusionen und gezielte UV -Direkteinstrahlung brauchen. Ich sehe nämlich, dass du dich nicht an unseren Astronautenplan gehalten hast.« Er krempelt Tills Pullover hoch und ertastet seine Gelenke: »Viel zu wenig Bewegung, schlechte Ernährung, ergo: erhärtete Gelenke.« Er fährt ihm über die erhobenen, erröteten Hautpartien: »Und hier … hm, das sieht komisch aus. Als hättest du zu lange im Sonnenstudio gelegen.«
»Ihr habt mir die Heizung ausgeschaltet.«
Im Hintergrund löst Anna-Marie das Kalzium in einem Erlenmeyerkolben auf, schüttet das Vitaminpulver hinzu und rührt mit einem Teelöffel darin herum. Sie füllt den Infusionsbeutel mit der Flüssigkeit und sucht in einer weiteren Schublade nach der Infusionspumpe.
»Keiner hat dir die Heizung ausgeschaltet. Im Gegenteil«, sagt Karola, die Arme hält sie verschränkt, die Zigarette in der einen, ein Feuerzeug in der anderen Hand.
Oskar untersucht die Erhebungen auf Tills Haut. »Wenn mich nicht alles täuscht, handelt es sich um eine Lichturtikaria, Urticaria solaris.«
»Wir machen uns Sorgen, Till«, sagt Karola.
Oskar grübelt: »Deswegen die verdunkelten Scheiben. Du hast eine Lichtallergie, du musst dich vor bestimmten Wellenlängen schützen!«
»Urticaria was?«, fragt Kilian, den Infusionsbeutel in den Händen balancierend.
Oskar dreht ihm Tills Arm hin: »Urticaria solaris. Von falsch dosierter UV -Strahlung hervorgerufene Erhebungen, hier, im Volksmund Quaddeln genannt. Sehr stark juckend, ungefähr so, als hätte er den Arm für lange Zeit in einen Ameisenhaufen gesteckt.«
»Das sind Frostbeulen«, sagt Till.
»Nein, es ist alles andere als kalt hier bei uns, die Heizungen laufen auf Hochtouren. Du hast – ich weiß nicht wie – die falsche Strahlung abbekommen. Ob Sonnenlicht oder irgendwelche anderen Strahlungen kann ich noch nicht diagnostizieren. Wir müssten ein paar Tests durchführen.«
Till zieht den Arm weg. »Meine Heizung läuft nicht auf Hochtouren.«
»Pure Einbildung.« Karola hat sich die Zigarette angesteckt. Till und Oskar schauen sie beide gleichermaßen verstört an. Karola streckt dem Sohn die Schachtel hin, der ablehnt. »Wir haben verstanden«, sagt sie, »dass du keine Lust auf draußen hast. Aber irgendwann ist Schluss, da muss es auch mal weitergehen. Du kannst dich nicht einfach tot stellen, das geht nicht. Verstehst du? Wenn wir an die Tür klopfen oder dir Zettel-Botschaften zukommen lassen –
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