Hikikomori
stündlich! – , dann muss man auch mal reagieren.«
»Oder dir Ständchen bringen.« Oskar beginnt den Leguan nach einer geeigneten Vene abzutasten.
»Genau, die Geburtstagsgeschenke hast du angenommen, die waren schnell weg. Nicht mal Danke hast du gesagt.«
»Ich habe überhaupt keine Geschenke bekommen.«
»Wir wollen nur das Beste für dich. Oder gegen das Einklagen, dass wir dich durch das Abitur gebracht haben, dass du dich bald an einer vernünftigen Universität einschreiben wirst, dagegen hattest du nichts einzuwenden, das fandest du wieder okay. – Und die Drohungen.«
Anna-Marie drückt den Stecker der Infusionspumpe neben dem Kamin in die Steckdose – das Display an der Pumpe springt an – und tippt unter Kilians offensichtlicher Bewunderung auf das Bedienfeld. Sie schließt den Infusionsbeutel an die Pumpe an und dreht das Rädchen an dem Schlauch. »Wo soll ich einstechen?«, fragt die Schwester.
»Hier.« Oskar hebt den Vorderfuß an und zeigt auf die weiche Achselhöhle des Reptils.
»Drohungen?«, fragt Kilian.
»Wartet«, mischt sich Oskar ein, »das Tier muss erst gerettet werden, das hat Priorität vor den ganzen Befindlichkeiten.«
Anna-Marie bohrt die Nadel in die Vene, ein Zucken durchfährt den Körper des Reptils, Blut schwappt in den Schlauch.
»Aufdrehen!«
Sie dreht am Rädchen, ein Gegendruck wird erzeugt, Blutschlieren treiben zurück in die Vene. »Welche Dosierung?«
»400 I.E.«
Anna-Marie stellt die Dosierung auf dem Display ein und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ein gleichmäßiges Piepen im Rhythmus einer trägen Herzfrequenz und das Saugen der Pumpe verbreiten eine beruhigende Stimmung. Karola applaudiert.
»Jetzt heißt es: abwarten und Tee trinken.« Oskar lässt sich erschöpft auf seinen Platz am Tischende fallen.
»Ist er gerettet?« Till hat sich aus Gewohnheit auf seinen Stuhl gesetzt. Kilian steht unschlüssig in der Gegend herum, die Schwester verfeinert derweil die Einstellungen des Geräts.
»Das wird sich erweisen, Till. Wenn du ihn uns behandeln lässt.« Oskar zwinkert. »Wenn wir ihn in die Familie aufnehmen sollen, dann machen wir das. Du musst bloß zustimmen.«
Till schaut mit einem Blick, als hätte er ein Verbrechen begangen und die Strafe sei ihm gnädigerweise erlassen worden, auf Kilians kaum berührten Teller. In den letzten Minuten haben sich seine Wangen merklich gerötet.
Kilian hat auf dem Gästestuhl Platz genommen: »Welche Drohungen?«
»Lass gut sein, Mails hin oder her«, sagt Oskar. »Wir haben den Tiefpunkt erreicht, ab heute geht es wieder bergauf!«
»Aber Drohungen sollte man sich doch nicht gefallen lassen«, bleibt Kilian beharrlich.
»Es waren keine richtigen Drohungen«, beschwichtigt Karola, die sich nun auch wieder gesetzt hat. »Nur ein paar Mails.«
Die Schwester verdreht wieder die Augen: »Hört bitte damit auf, ich kann es nicht mehr hören!«
»Aber Mails sind doch keine Kleinigkeit«, insistiert Kilian. »Juristisch gesehen sind sie sogar beweiskräftiger als mündliche Aussagen.«
»Wir brauchen keine Juristen«, sagt Karola forsch und drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. »Wir regeln das selbst.«
Kilian verstummt. Eine ganze Weile hört man lediglich das Saugen und Piepen der Pumpe. Man kann sehen, wie sich der Bauch des Leguans wölbt und wieder senkt. Till hofft, er möge es überstehen. Könnte er am Ende gar ein gutes Tegetmeyer-Haustier abgeben?
»Ich will das jetzt nicht dramatisieren«, setzt wieder Kilian an, »aber bei so etwas braucht es rechtlichen Beistand, da muss man mit aller Gewalt vorgehen, das ist Mobbing, das gehört ausgemerzt!«
Karola legt ihre Hand auf seinen Arm. »Gut, Kilian, wenn du dann Ruhe gibst. – Oskar, hol die Mails!«
Grummelnd verlässt Oskar das Zimmer, kommt nach einer Weile mit einem Tablet-Computer in der Hand wieder und legt ihn vor Kilian auf den Tisch. Kilian streicht über das Gerät und tippt etwas an: »Was sind denn das für Mailadressen?«
»Deutschland, USA , Japan, Singapur, von überall her kommen die«, sagt Karola genervt.
»Darf ich lesen?«
»Nur zu.«
Kilian klickt wieder ein paarmal. Während er liest, bewegt sich sein Mund zu den Worten.
»Lies vor«, sagt Anna-Marie.
»Sei doch nicht so dramatisch«, sagt Karola.
»Dann hört er’s auch mal.«
»Soll ich?«
Oskar zuckt mit den Schultern.
»Dann mach halt«, sagt Karola.
»Also: Hier eine Mail von einem gewissen affeohnewaffe. « Kilian lacht und schüttelt den
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