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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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dem Fenstersims, zaghaft aufs Metall fallende Kügelchen. Schnee über Schnee. War nicht erst Sommer?
    Nebenan höre ich Anna-Marie. Das Tier röchelt und strampelt wie ein schlafender Hund. Seit vielen Tagen läuft die Heizung auf höchster Stufe. Seit Tagen rumort sie bloß, ohne sich im Geringsten aufzuwärmen. Sind das auch Ratschläge der Nachbarn? Die Heizung, bitte, habe ich auf einen Zettel geschrieben. Wir frieren. Keine Antwort. »Hallo«, habe ich gerufen, als jemand vorbei ging: »Die Heizung!« – »Mach sie doch an«, hat sie geantwortet. Anna-Marie. – »Hab ich schon«, habe ich gesagt. »Es kommt aber nichts.« – »Dann sag’s Mutter«, hat sie hinzugefügt, genervt. – »Will ich doch«, habe ich geantwortet.
    Weit unter null Grad.
    Ich kraule den Hals des Tiers, während es sich fragt, warum keiner mehr da ist, der ihm zuhört. »Minus vier Grad«, sage ich ihm. Eisregen. Es nickt. Es ist geschwächt, verweigert das Essen. Draußen peitschen Hagelkörner gegen die Scheibe.
    Minecraft weist mich darauf hin, dass die Population auf ein Minimum geschrumpft sei. Sogar das Meer sei mitsamt aller Meeresbewohner, von denen ich bis dahin gar nichts wusste, zugefroren. Ich sitze auf dem Dach des Baumhauses und mich überzieht eine hauchdünne Schneelage nach der anderen. Flocken fallen nicht nur aus dem blauen Himmel, sondern krabbeln vom Boden auf mich wie Trupps polarer Parasiten, die mich besiedeln wollen. Welt 0 liegt vollständig eingeschneit da. Von den Freunden, die mir wenigstens eine Wolldecke umlegen könnten, keine Spur.
    Weit, weit unter null Grad.
    Es muss bitterkalt draußen sein, zumindest strahlt es eisig vom Fenster her, obwohl ich es längst mit meinen letzten Klamotten abgedichtet habe. Immerhin hat sich das Tier der UV -Lampen erinnert, die ihm in der Transportkiste mitgegeben wurden. Ich habe sie entstaubt und angeschlossen. Entscheidend lindern sie die Kälte nicht, sondern provozieren eher noch ein heftiges Jucken auf der Haut, das mich zum ständigen Kratzen verführt. Das Tier bewegt sich nicht mehr. Wir liegen auf der Matratze, das Tier reglos auf meiner Brust, die UV -Lampen über uns laufen im Hochbetrieb. »Die Matratze ist unser Grab«, sage ich, »ein kaltes.« Nur der Rechner schnauft energisch, trägt tapfer die vereiste Welt 0.
    Etwas tut sich im Flur, auch wenige Autos rauschen in der Ferne vorbei, ausgelassene Stimmen skandieren immer wieder: »Hölle! Hölle! Hölle!« Ich habe Hunger und Durst und fühle mich sehr schwach. »Es ist so weit«, sage ich entschlossen, sammele die letzten Kraftreserven und setze das vor Kälte erstarrte Tier von meiner Brust auf den Boden. Es ist so weit. Sie haben es geschafft.
    Die Gelenke schnarren mit jedem Schritt, den ich Richtung Tür mache. Als wollte mich mein Körper zurückhalten.

15
    Ein heiteres Gemurmel zu Haydns Celloklängen im Wohnbereich, bis auf den Gang schimmert die Festbeleuchtung, es riecht nach geröstetem Brot und Honigwachs. Die Eltern, Anna-Marie und ein Junge zu ihrer Seite haben sich gerade an den Tisch gesetzt. Oskars Haare sind nachgefärbt worden, Anna-Marie hält unter dem Tisch Händchen mit dem Jungen, es ist Kilian, dessen Vater Oskars plastische Chirurgie in allen rechtlichen Belangen vertritt und der nun auf Tills Platz sitzt. Um den Hals trägt er eine Kette gleichförmiger Muscheln, das Gesicht ist für sein Alter markant. Karola reicht den Brotkorb herum, jeder nimmt sich eine Scheibe. Auf dem Tisch steht ein Ufo-artiger Toaster, sind Wurst- und Käseplatten, mit Oliven, Artischocken und Peperoni gefüllte Schälchen verteilt. Im Hintergrund knistert das Feuer. Es ist noch früh am Abend, jedoch bereits dunkel. An der Wand steht eine reich verzierte Konsole. Sie ist mit einem Adventskranz dekoriert, zwei der jeweils vier Kerzen brennen. Als Till ins Wohnzimmer tritt, verstummen alle schlagartig.
    Till sieht ganz und gar nicht gut aus. Dunkle Ringe unter den Augen, die er immer wieder mit dem Handrücken reibt. Blaue Äderchen schlängeln sich über die Haut, einige der Hautpartien sind rötlich entzündet, heben sich wie kleine Plateaus ab und erinnern an Brandblasen. Till trägt eine Badehose und dazu einen dicken Wollpullover. Am Hals so etwas wie ein Knutschfleck. Die Füße sind stoffumwickelt, als käme er von einer langwierigen Polarexpedition. Die Haare sind länger geworden, die Fingernägel heruntergekaut. Für geraume Zeit hat er sich nicht mehr rasiert.
    Karola, den Kopf schräg

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