Hikikomori
Kopf. »Was ist denn das für ein bescheuerter Name? Also gut, der Typ schreibt: Wir haben Sniper in einer der Wohnungen gegenüber pfostiert . Wir sehen die Bäckerei, wir sehen Deinen Pagenkopf, Karo, wie Du im Zimmer herumfläzt und Dir auf das Fag- TV einen fappierst, den Weißwein schlürfst (Grüner Veltliner). Wir sehen Dich, Oskar, wie Du zu den Brit-Fags Golf zocken gehst, aber nie dort ankommst … Wir sehen ihn aber nicht! 0 ist eingefroren. Wir sind eine Legion. Wir vergessen nicht. Erwartet uns.«
»Wir sind eine Legion, erwartet uns – das ist doch echt schon abgedroschen«, sagt Karola spöttisch. »Aber Grüner Veltliner, Till, woher wissen die das? Das ist doch komisch, nicht?« Till reagiert nicht. »Und dass wir mittwochs vor dem Fernseher sitzen, wenn Oskar Golf spielen ist. Und dass bei dir angeblich die Heizung abgeschaltet ist. Till. Das geht doch keinen etwas an. Oder dass wir dir Zettel schreiben, oder dass du am liebsten Grießbrei isst, nicht mal den mehr bekommen sollst. Das ist eine interne Angelegenheit, Junge. Das gilt es, nicht weiterzuerzählen.«
Kilian studiert derweil ungerührt die weiteren Mails.
»Und wir werden angesprochen«, sagt Anna-Marie.
»Jetzt lasst den Jungen in Ruhe«, geht Oskar dazwischen. »Er kann doch nichts dafür.«
»Doch«, sagt die Schwester. »Das soll er wissen, er kann da bestimmt was dafür! Auf der Party war das.«
»Auf welcher Party, Schwesterchen?«, fragt Till.
»Sag nicht schon wieder Schwesterchen! Irgendeine halt, wo alle sind. Zumindest war da der Matze.«
»Matze?«
»Ja, dein bescheuerter Zockerfreund Matze, wie immer ungewaschen und unerträglich. Und der ist mir den ganzen Abend hinterher gestiefelt. Stand immer hinter mir, als würde er mich im nächsten Moment von hinten anfallen oder so. Echt den ganzen Abend! Wenn ich mich zu ihm umdrehte, hat er sofort weggeschaut und so getan, als würde er mir gar nicht nachsteigen. Irgendwann wurde es mir zu blöd und ich habe ihn am Arm gepackt und gefragt, was denn mit ihm abgeht und ob er es langsam nicht mal sein lassen kann, mich bescheuert anzugeilen. Er hat mich nur, so ernst wie er konnte, angeschaut, genau in die Augen, todernst und gesagt: Mach wieder warm. Und ich: Äh, was, bist du bescheuert ? Und er: Du weißt schon, was ich meine. Mach warm, wenn’s deine Scheißeltern schon nicht tun. Und ich: Äh, du tickst doch nicht mehr richtig! Und er: Du weißt schon, wovon ich rede. Und dann ist er abgedampft, im Stechschritt, hat drei Neuntklässler umgerempelt und ist in den Schnee raus. Und ich hatte echt keine Ahnung, was er wollte.«
»Matze?«
»Ja, Matze, Till«, sagt Karola. »Und du hast nicht vergessen, wie offen wir sind und wie nett wir gerade den Matthias behandelt haben, obwohl er ja nicht gerade zugänglich war. Und dass wir, wenn alles vorbei ist, dein Zimmer grundsanieren müssen, ist uns ebenfalls total egal!«
»Und der Gestank.«
»Ich muss dann mal.« Kilian hat den Tablet-Computer in den Ruhemodus versetzt und ist hastig aufgestanden.
»Denk an den Freitag«, sagt Oskar.
»Ja, ich denk dran.« Kilian berührt Anna-Marie leicht an der Schulter und drückt ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange.
»Was ist nächsten Freitag?«, fragt Till.
»Was interessiert dich das auf einmal!« Ohne sich noch mal umzudrehen, geht die Schwester in ihr Zimmer. Sie ist nicht größer, lediglich etwas schmaler geworden. Kurz darauf hört man den Fernseher, Sekunden später in doppelter Lautstärke.
» Das Tapfere Sniperlein «, murmelt Till.
»Das tapfere was ?«
»Sie warten auf mich. Drüben.«
»Wer wartet wo auf dich?«
»Sie warten darauf, wieder im Halbkreis ums Tier zu sitzen, Tagesaufgaben gestellt zu bekommen, die Ernte einzufahren, Strom zu erfinden!«
»T ill, was redest du für wirres Zeugs?«, sagt Karola. »Ich sage das zum letzten Mal: Wir sind stolz auf dich, du bist toll, du hast einen starken Willen, ja, das sehen wir jetzt.«
»Und Charakter«, fügt Oskar hinzu.
»Genau, und Charakter. Aber jetzt muss es weitergehen.«
»Bin ich so eine Enttäuschung?«
»Nein, du bist doch keine Enttäuschung. Wir glauben immer noch an dich.«
»Sie haben geschrieben. Sie glauben auch an mich.«
»Wer glaubt auch an dich?«, fragt Oskar.
»Sie, versteht ihr?« Lange schauen ihn die Eltern an, ohne darauf irgendwie zu reagieren. »Ihr könnt doch auch gut ohne mich.«
»Kannst du das nicht kombinieren?«, fragt Oskar. »Ich meine, triff sie eben dort, wo
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