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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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gelegt, betrachtet ihn von oben bis unten: »Wo ist deine Hose?«
    Till räuspert sich, Schleim schwappt den Hals hinauf, er schluckt herunter. »Ihr habt ihn umgebracht.« Seine Stimme klingt sehr heiser und rasselt wie eine Kette.
    Karola schaut Oskar an. Anna-Marie verdreht die Augen.
    »Setz dich doch erst mal«, sagt Oskar und weist auf den Gästestuhl. »Ruh dich aus.«
    Wortlos setzt sich Till umständlich auf den Gästestuhl Kilian gegenüber, der auf sein Butterbrot stiert.
    »Du hast bestimmt Hunger«, sagt Karola. Oskar steht auf und geht in die Küche.
    Till nickt, sucht dabei mit seinem Blick etwas im Wohnzimmer, bleibt an der Konsole hängen.
    »Die ist neu«, sagt Karola. »Mexikanisches Pinienholz, als einziges Stück von der Ausstellung übrig geblieben. Das Karibikmotto war eine tolle Idee, Junge!«
    Till schaut sie kurz an, blickt dann apathisch auf den Teller vor sich.
    »Wir haben sie geschmückt. Mit Adventskränzen, Till. Wir haben uns gedacht, wir machen das auch mal.«
    Till schaut ihr verwundert in die Augen.
    »Genau wie bei den Reicherts. Wie du’s immer wolltest.«
    Oskar erscheint mit einem Tischset. Till belädt seinen Teller mit Käse, Wurst und Radieschen. Karola drückt zwei Brotscheiben in den Toaster, Oskar schiebt ihm die Butter hin. Kilian beobachtet ihn immer noch, als habe er einen Geist vor sich. Bevor sie zu essen beginnen, reichen sie sich die Hände, Kilian zögert erst eine Weile, bis er kapiert, was er zu tun hat, und schließt den Kreis. Im Chor wünschen sie sich: »Guten Appetit.«
    »Willst du etwas trinken?« Karola schwenkt die Weinflasche. Till nickt. Sie füllt sein Glas halb voll.
    Till trinkt den Wein, als sei es Wasser. Sie heben die Gläser. »Prost!«
    Anna-Marie lächelt nur verlegen. Oskar zerschneidet sein Brot mit Streichleberwurst in quadratische Häppchen, Karola faltet ein Salatblatt, Anna-Marie löffelt aus einem Schüsselchen drei Oliven auf ihren Teller, die wie Kreisel herumschwirren, in der Mitte des Tellers zur Ruhe kommen. Die Brotscheiben schnellen aus dem Toaster, eine elektronische Stimme ertönt: »Invasion! Invasion! Invasion!«
    »Witzig«, sagt Karola.
    »Ja, witzig.« Im Handumdrehen hat Till die Scheiben bestrichen, belegt und zu essen begonnen.
    »Wer wurde umgebracht?« Kilian hat als Einziger sein Brot noch nicht angerührt. Anna-Marie boxt ihm in die Seite und schaut ihn böse an.
    »Niemand wurde umgebracht«, beschwichtigt Karola.
    Till tunkt ein Radieschen in den Meerrettich, kaut darauf herum, so dass es laut knackt. »Ihr habt ihm die Heizung abgestellt.« Er tunkt ein weiteres Radieschen ein. »Er ist erfroren.«
    »Wer ist erfroren?« Kilian bekommt abermals einen Stoß in seine Rippen.
    »Niemand ist erfroren«, sagt Karola. »Pure Einbildung.«
    »Ja?«
    »Ja, pure Einbildung.«
    »Okay.« Till wischt sich mit der Serviette den Meerrettich vom Mund, erhebt sich schwerfällig, als wögen seine Glieder Tonnen, und bewegt sich langsam, die Blicke der anderen im Rücken, in sein Zimmer. Mit einer Kiste auf dem Arm, aus der der Kopf und die Vorderbeine des Leguans heraushängen, kehrt er ins Esszimmer zurück und hievt sie so auf den Tisch, dass die Gläser zu taumeln beginnen.
    Als Erste beugt sich Karola über den Inhalt. »Das ist alles, was du uns nach so langer und schwieriger Zeit präsentierst, Till? Einen Kadaver?!«
    Anna-Marie hält sich mit dem Shirt-Zipfel die Nase zu. Kilian dicht hinter ihr: »Das sieht ja echt tot aus. Was war denn das?«
    »Nichts war das.« Karola läuft vor dem Kamin auf und ab. »Nichts Großartiges zumindest.«
    Tills Augen sind glasig, er muss viele Male tief einatmen, um nicht in Tränen auszubrechen.
    »Lasst mich mal, lasst mich mal.« Oskar bahnt sich seinen Weg, indem er die Tochter und deren Freund beiseiteschiebt, und greift in die Kiste.
    »Du fasst das ohne Handschuhe an?«, sagt Anna-Marie.
    »Abwarten.« In aller Ruhe hebt Oskar den leblosen Körper heraus, hält ihn auf seinen beiden riesenhaften Händen. Das Zittern ist nun gänzlich verschwunden, er hat es routiniert von der einen auf die andere Sekunde abgestellt. Schwanz und Haupt des Reptils hängen schlaff herunter, der Körper hat den Farbton abgestandener Milch. »Abwarten.« Behutsam trägt er das Tier zum Kamin. »Polster!« Anna-Marie löst ein Polster aus der Sitzgarnitur und bereitet einen Platz am Kamin vor. Karola schaut aus dem Fenster, eine Zigarette zwischen den Fingern. Er setzt den Leguan auf dem Polster ab,

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