Hill, Susan
sehr der Sünden Last.
Der Choral, gesungen von der ganzen Gemeinde, den St.-Michael-Sängern und dem Chor, schien die Kathedrale bis zum Dach hinauf zu füllen. Freya Graffhams Sarg stand auf Böcken vor den Stufen der Kanzel. Sie hatte zum Dach mit den vergoldeten Engeln und Streben hinaufgeschaut, als sie selbst gesungen hatte, und daher fand Cat es in diesem Fall noch angemessener als sonst, den Sarg dort aufzustellen. Der wunderschöne Choral hatte alle tief bewegt.
Die Kathedrale war voll. Kollegen aus Freyas altem Team bei der Met saßen zwischen denen aus Lafferton. Goldtressen blinkten. Chief Constables und stellvertretende Chief Constables, Chief Superintendents, Superintendents. DCI Simon Serrailler saß am Gangende einer Bank, von der er aufgestanden und ans Lesepult gegangen war, um die Lesung aus dem Alten Testament vorzunehmen. Nathan Coates saß mit seiner Verlobten in der zweiten Reihe, bei seinen und Freyas gemeinsamen Kollegen. Auf ihrem Platz im Alt hatte Meriel Serrailler den vertrauten Bibelworten gelauscht und zum ersten Mal seit Freyas Tod nicht nur Trauer empfunden, nicht nur den Verlust einer neuen Freundin, die sie so sehr gemocht hatte, sondern Bedauern um etwas Größeres, das sie nicht benennen konnte. Sie machte das Beste aus allem, schaute nach vorn, arbeitete, hielt sich nicht zu lange mit Dingen aus der Gegenwart auf. Auf diese Weise hatte sie eine lange und schwierige Ehe mit einem zornigen und verbitterten Mann ertragen, aber aus irgendeinem Grund kam durch Freyas Tod jetzt alles deutlich zum Vorschein. Die verschwendete Zeit, das verschwendete Leben, all die ungetanen Dinge, das Unterdrücken von so viel Wut schienen sich hier, in diesem Gebäude, das sie liebte, zuzuspitzen, und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen oder darauf reagieren sollte. Sie dachte an Aidan Sharpe, wahnsinnig, geistesgestört, böse, verdreht – was? Seit wann? Und warum, warum, warum?
Stühle wurden gerückt, als der Choral endete. Nathan Coates erhob sich und ging zum Lesepult. Sein Gesicht war verzerrt von der Anstrengung, sich zu beherrschen, und in seinem hellgrauen Anzug mit der schwarzen Krawatte sah er aus wie ein Schuljunge. Er legte beide Hände aufs Pult und räusperte sich. Emma ballte die Fäuste vor Mitgefühl. Zuerst hatte er gesagt, er könne das nicht, er habe Angst, weinen zu müssen, wie er seit dem Tod seines Sergeants so oft geweint hatte. Dann hatte er ganz plötzlich seine Meinung geändert. »Hab mich zusammengerissen«, hatte er zu ihr gesagt. Aber sie wusste, wie schwer es für ihn sein musste.
»Die Lesung ist aus dem Evangelium nach Lukas, Kapitel zehn. ›Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber …‹«
Seine Stimme wurde kräftiger, während er das Gleichnis vom guten Samariter vorlas, sodass sie am Ende klar und stolz und kraftvoll durch die Kathedrale hallte. Als er zu seiner Bank zurückging, blieb er am Sarg stehen und beugte den Kopf.
»Lasset uns beten.«
Emma nahm Nathans Hand und drückte sie zwischen ihre beiden Hände, um das Zittern zu beruhigen.
Karin McCafferty war müde. Sie wäre fast zu Hause geblieben, gedrängt von Mike, sich nicht dazu zu zwingen, Mike, der Angst um sie hatte, Angst um sich hatte, hilflos war angesichts dessen, was er als ihr Todesurteil betrachtete. Er hatte nicht an den Weg geglaubt, den sie eingeschlagen hatte, und auch ihre Gründe dafür nicht verstanden. Jetzt, nachdem er Recht zu haben schien – nachdem alle anderen Recht zu haben schienen, außer ihr –, fand er Ausreden, sich von ihr fern zu halten, damit er nicht zusehen musste, wie es ihr schlechter ging und sie schwächer wurde.
Aber mir geht es nicht schlechter, sagte sie sich, als sie sich zum nächsten Choral erhoben, das weiß ich. Ich weiß es. Seit Wochen fühlte sie sich abgeschirmt, eingehüllt in den Kreis einer starken, schützenden Kraft. Langsam, allmählich wurde sie geheilt und gestärkt. Sie hatte nicht die geringste Angst, während sie unter all den Menschen stand und zu singen begann.
Jesus, meine Zuversicht und
Mein Heiland, ist im Leben
Dieses weiß ich; sollt ich nicht
Darum mich zufrieden geben,
Was die lange Todesnacht
Mir auch für Gedanken macht?
Sie fragte sich, wer den Choral ausgesucht hatte, ob Freya Anweisungen für ihre Beerdigung hinterlassen hatte. Vielleicht taten Menschen, deren Arbeit sie in Gefahr brachte, so etwas oft, vielleicht nur ein paar hingekritzelte Notizen
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