Hill, Susan
Rätsel wie auch eine Herausforderung darstellte, war Angela Randall, die Vermisste. Sonst gab es nur noch einen, wie Freya fand, tödlich langweiligen Fall von Veruntreuung, ein paar Autodiebstähle und die unvermeidlichen Drogendelikte. Sie nahm den Block, den sie auf dem Nachttisch neben dem Telefon liegen hatte, und begann sich Notizen zu machen. Nach der Durchsuchung des Hauses und den Gesprächen mit der Chefin aus dem Pflegeheim hatte sich Freya ein Bild von Angela Randall zusammengestellt. Sie fühlte sich auf seltsame Weise mit ihr verbunden. Zehn Minuten lang fasste sie den Fall kurz und prägnant zusammen, dann war sie plötzlich erschöpft. Am nächsten Morgen brauchte sie nicht gleich ins Büro, musste erst etwas im neuen Gewerbegebiet am Stadtrand überprüfen, im Zusammenhang mit dem Veruntreuungsfall, den sie am liebsten so schnell wie möglich an das Betrugsdezernat abgegeben hätte. Danach würde sie jedoch, ohne das Wissen des DI und vorzugsweise mithilfe des eifrigen jungen DC Nathan Coates, noch etwas mehr Zeit auf Angela Randall verwenden.
Sie knipste die Lampe aus und sank in einen schweren Schlaf.
Nathan Coates hatte sich seit kurz nach halb acht zielstrebig durch die Datenbank verurteilter Drogenstraftäter gearbeitet. Jetzt war es elf, und er hatte sich mit seinem dritten Becher Kaffee für die nächste Runde aufgepeppt, als Freya an seinem Schreibtisch stehen blieb.
Sie mochte Nathan, eher wegen, nicht trotz seines Gesichts, das wie die Karikatur eines Verbrecherfotos aussah, als sei er gegen die Tür gerannt, die Nase zerquetscht, die Wangenknochen eingedellt, der Mund viel zu breit. Er hatte hellrotes Haar, das wie die Borsten eines Reisigbesens abstand, und genug merkwürdige Beulen und Flecken auf der Haut, um Freya an Shakespeares Lord Bardolph zu erinnern; seine Zähne waren schief und zwischen den Vorderzähnen war ein Spalt. Außerdem hatte er ein Grinsen, das seine Augen aufleuchten ließ und ihn, zusammen mit seiner fröhlichen Bereitschaft, sich auch die unangenehmsten Aufgaben aufzuhalsen, vor denen sich die anderen gerne drückten, nicht nur bei der restlichen Kriminalpolizei, sondern im ganzen Revier beliebt machte.
»Morgen, Nathan.«
Er sah auf und lächelte.
»Ich wollte Sie von alldem hier entführen.«
»Ach, so schlimm ist das nicht, Sarge, wenigstens hab ich’s hier warm und krieg genügend Koffein. Außerdem hasse ich diese Drogenkerle, ehrlich, ich hasse sie.«
Freya wusste, dass Nathan aus einer Sozialbausiedlung in Bevham stammte, die während seiner Jugend von Drogendealern beherrscht worden war. Er hatte Schulfreunde schwach und zu Süchtigen werden sehen, mehrere waren gestorben, andere waren in die Kleinkriminalität oder Schlimmeres abgerutscht. Nathan war das vierte Kind einer allein stehenden Frau, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, sich von jedem ihrer kurzfristigen Lebenspartner ein Kind machen zu lassen, bevor sie ihn für den nächsten Mann hinauswarf. Auf dem Papier sollte so ein Junge mit so einer Herkunft, ein höflich als »schwach« umschriebener Schüler einer Gesamtschule, denselben Weg eingeschlagen haben wie seine Freunde, sollte jetzt arbeitslos oder möglicherweise im Gefängnis sein und der Polizei regelmäßig Ärger machen. Nathan Coates war klüger als der Rest seiner Familie zusammengenommen, gewitzt und vorausplanend. Er hatte sich seine Umgebung genau betrachtet und erkannt, dass er, wenn er nichts unternahm, eine düstere Zukunft vor sich hatte. Ab seinem sechsten Lebensjahr hatte er, während er mit seiner Gang in der Siedlung herumstromerte, die Streifenwagen beobachtet, die regelmäßig dort auftauchten, und nach einer Weile hatte er sich, außer Sichtweite der anderen, an sie herangemacht und sich mit den Beamten unterhalten. Mit zehn war er aufs Polizeirevier gegangen und hatte sich erkundigt, wie man Polizist werden konnte; gleichzeitig hatte er jede Fernsehsendung über Verbrechen und Polizeiarbeit verschlungen, was daheim, wo der Fernseher dauernd lief und immer jemand mit glasigen Augen davor hockte, zu einiger Verwunderung führte.
Jetzt war Nathan Coates seit sechs Jahren bei der Polizei, von Anfang an in Lafferton und seit achtzehn Monaten bei der Kriminalpolizei. Er wusste, dass er es nicht fertig bringen würde, in seiner eigenen Siedlung Streife zu gehen, seine ehemaligen Nachbarn und Schulkameraden verhaften zu müssen, und außerdem wollte er dort raus, als zweiten Schritt eines neuen Lebens. Er
Weitere Kostenlose Bücher