Hill, Susan
dunkle Straßen. Freya hatte ihren Wechsel zur Kriminalpolizei und die darauf folgende Beförderung nicht bedauert, genauso wenig wie ihren Umzug nach Lafferton, aber der Geruch der Nachtluft schlug dennoch eine Saite an.
Sie wandte sich vom Fenster ab, füllte die Wärmflasche und den Teebecher. Sie hatte mit Unterbrechungen nicht mehr als eine Stunde geschlafen, sich dann im Bett herumgewälzt, bis ihre Decke und ihre Kissen völlig zerwühlt waren, hatte abwechselnd geflucht, sich gesehnt oder auch nur versucht, sich über ihre Gefühle klar zu werden und zu begreifen, was passiert war.
Simon Serrailler war nicht zu dem Chorfest gekommen. Freya hatte viel Zeit damit verbracht, die passende Kleidung auszuwählen, sich zu frisieren und zu schminken, und auf dem Weg dorthin hatten ihre Hände feucht auf dem Lenkrad gelegen, und ihr Mund war trocken gewesen. Wie ein verdammter Teenager, dachte sie wütend, als sie in die Einfahrt von Hallam House bog. Dort parkten schon viele Autos, und Licht leuchtete einladend aus allen Fenstern im Erdgeschoss. Die Vorhänge waren offen, und Freya konnte Menschen hinter den Scheiben sehen, aber nicht ihn. Sie hörte ein plötzliches Lachen, und Schüchternheit überkam sie, sodass sie fast wieder ins Auto gestiegen und weggefahren wäre. Gesellige Zusammenkünfte waren ihr nie schwer gefallen, aber ihre Ehe mit Don hatte einen Großteil ihrer Gelassenheit und Selbstsicherheit untergraben – und außerdem waren sie nur selten ausgegangen und nur dorthin, wo sie Arbeitskollegen oder Leute, die sie bereits kannten, treffen würden. Ein weiteres Auto bog in die Einfahrt und parkte neben ihrem. Freya wartete, wusste nicht, was für einen Wagen Simon Serrailler fuhr, hoffte verzweifelt, es sei seiner, damit sie zusammen mit ihm ins Haus gehen konnte. Die Scheinwerfer erloschen, und zwei Leute stiegen aus, eine davon die Frau, die Freya nach der Probe heimgefahren hatte. Sie rief ihren Namen. »Sharon!« Mit jemandem hineinzugehen, den sie zumindest flüchtig kannte, verhieß ihr wenigstens einen reibungsloseren Anfang des Abends.
Ihre Desserts wurden gelobt und verschlungen, und sie versprach mehreren Gästen die Rezepte. Sie genoss es, hier zu sein, vertiefte sofort ihre neue Freundschaft mit Meriel Serrailler und fasste spontan eine Abneigung gegen deren Mann, der eine sarkastische Zunge hatte und einen Ausdruck, in dem sich Überlegenheit mit Missfallen mischte.
Der Abend war schön, aber sie hatte ihn sich selbst verdorben, weil sie ständig in der Hoffnung zur Tür geschaut hatte, er käme herein, und sich dann vor ihrer Reaktion gefürchtet hatte, und als sie bemerkte, dass es schon nach zehn war und er nicht mehr kommen würde, war sie so enttäuscht, dass sie keinen Spaß mehr hatte und ging.
Wieder im Bett, warm und gemütlich, schüttelte sie ihre Kissen auf und legte sich in den Lichtkreis der Lampe, versuchte dem Geschehen und dessen Bedeutung einen Sinn abzugewinnen. Sie war niedergestreckt worden, augenblicklich und total, von dem Aussehen und dem Klang und der Aura und der Persönlichkeit des Mannes; sie war unter einen Bann geraten, ihr waren Liebestropfen in die Augen geträufelt worden – sie ging alles durch, was ihr an literarischen Klischees für einen ganz gewöhnlichen Vorgang einfiel, den sie aber selbst noch nie erlebt hatte. Sie war verwirrt und bestürzt davon, verblüfft darüber, dass sie dem, was sie eher wie einen kräftigen Schlag als wie ein Gefühl empfand, schutzlos ausgeliefert war und vor ihrem inneren Auge, ob sie etwas tat, ob sie an etwas dachte, ob sie mit jemandem sprach oder allein war, in ihrem Auto fuhr oder schlaflos im Bett lag oder die Seiten eines Buches umblätterte, ständig Simon Serrailler sah, wie er am Küchentisch seiner Mutter gesessen hatte, einen Becher Tee vor sich und die Hand darüber, in der er den Keks hielt. Das Bild ging ihr nicht aus dem Kopf, als wäre es auf ihrer Netzhaut eingebrannt. Es war auch jetzt da.
Sie griff nach ihrem Buch, das sie bis heute so fesselnd gefunden hatte, die Geschichte so spannend, dass sie sich immer mit dem Abwaschen oder Duschen beeilt hatte, um weiterlesen zu können. Jetzt las sie zum zweiten Mal die letzten drei Absätze, und sie ergaben wenig Sinn, hinterließen keinen Eindruck. Ihr Wecker zeigte zwanzig vor fünf. Das Einzige, was ihren Geist beschäftigen und ihn davon abhalten konnte, auf Simon Serrailler zurückzukommen, war Arbeit, und der einzige Fall, der sowohl ein
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