Hill, Susan
hörte zu, während der Alt einige Takte Pause hatte, stellte sich vor, wie Brittens mächtiges Oratorium mit vollem Orchester in der Kathedrale klingen würde statt nur mit dem stellvertretenden Chorleiter am Klavier, wie gut der auch war.
Leise verklang der letzte Ton. Mehrere Sekunden lang hustete niemand, bewegte sich keiner. David Lester runzelte leicht die Stirn. Sie warteten darauf, dass er ihnen sagte, er wolle es noch einmal hören, und noch einmal …
»Ich frage mich, warum ich immer bis zur Pub-Zeit warten muss, damit Sie Ihr Bestes geben. Das war’s. Vielen Dank.«
Stühle wurden zurückgeschoben, Notenständer zusammengeklappt.
»Kommen Sie noch mit ins Keys?« Joan Younger, die neben Freya im Alt sang, berührte sie am Arm.
»Weiß nicht. Ich bin total erledigt.«
»Ich hab von dem vermissten Mädchen gehört.«
»Ja. Großeinsatz.«
»Umso mehr brauchen Sie die Entspannung.«
»Vielleicht.«
Freya steckte die Noten in ihre alte schwarze Notenmappe, die sie schon seit der Schulzeit besaß, und entfernte sich von den anderen. Sie war tatsächlich müde, außerdem hatte sie Kopfschmerzen. Tage wie diese waren für alle stressig, egal, wie erfahren sie waren. Obwohl ihr eigentlich mehr nach einem heißen Bad und frühem Schlafengehen war, hatte sie an der Chorprobe teilgenommen, weil sie wusste, dass sie die Musik nicht nur zur Ablenkung brauchte, sondern auch als Balsam für ihre Seele und weil das Singen selbst sie stets belebte. Das hatte auch diesmal funktioniert. Sie war mehr mit sich im Reinen, aber ihr war nicht danach zumute, jetzt noch eine Stunde lang in dem verrauchten, vollen Pub zu trinken und sich in höchster Lautstärke zu unterhalten. Da sie erst nach halb acht eingetroffen war, hatte sie sich einen Weg durch ihre Reihe bahnen müssen, als alle anderen schon an ihrem Platz saßen. David Lester hatte unterbrochen und gereizt wegen der Störung um Aufmerksamkeit gebeten. Jetzt ging Freya allein in die kühle, sternklare Nacht, glücklich, wieder an der frischen Luft zu sein. Ihr Auto stand auf der anderen Seite der Kathedrale, da bei ihrer Ankunft kein Parkplatz mehr frei gewesen war, und als sie um die Ecke bog, weg von der westlichen Haupteingangstür, wurde alles wunderbar ruhig. Die Häuser um sie herum waren dunkel, aber es gab Straßenlaternen, altmodisch wie aus einem Märchen, von denen topasfarbene Lichttümpel auf das Kopfsteinpflaster fielen.
An so einem Abend war es eine Freude, langsam durch diesen alten Stadtteil zu schlendern, aber Freyas Gedanken drehten sich wieder um die beiden vermissten Frauen. Sie waren irgendwo allein spazieren gegangen oder gelaufen. Was war dann passiert, und wo waren sie jetzt, in Sicherheit oder in Gefahr, lebend oder tot? Ein Schauder überlief sie, nicht aus Angst, vor allem nicht hier an diesem heiligen und geschützten Ort, sondern weil ihr professioneller Geist unvermeidlich wieder auf Gewaltszenen und die Folgen zurückgekommen war. Es war der erste Fall, seit sie nach Lafferton gekommen war, der sie so voll in Anspruch nahm wie viele Fälle, mit denen sie bei der Met zu tun gehabt hatte. Unwillkürlich hatte sie begonnen, sich mit den beiden Frauen zu identifizieren. Sie fühlte sich ihnen gegenüber verantwortlich, musste für sie tun, was sie nicht für sich selbst tun konnten.
Die Suche auf dem Hügel war bei Anbruch der Dunkelheit abgebrochen worden. Man hatte nichts gefunden. Am nächsten Morgen würde die Suche wieder aufgenommen und weitergeführt werden, bis entweder etwas gefunden wurde oder das gesamte Gebiet ohne Ergebnis durchkämmt worden war.
Sie ging die letzten paar Meter zu ihrem Auto. Sie wollte ihren Kopf frei machen von dem Fall und konnte es nicht, würde es nicht können, bevor er auf die eine oder andere Weise gelöst war. Das lag in der Natur der Arbeit und in ihrer eigenen. Ein Detective Inspector von der Met hatte ihr einmal gesagt, das sei ihre Schwäche.
»Um nach oben zu kommen, müssen Sie lernen, Abstand zu gewinnen, Freya, und dazu scheinen Sie nicht fähig zu sein. Es gelingt Ihnen nicht, die Dinge am Ende des Tages zurückzulassen. Sie nehmen sie mit nach Hause. Sie nehmen sie mit zum Essen, mit ins Bett. Auf diese Weise brennen Sie aus.«
In gewissem Sinne war es genau das, was ihr passiert war – sie war bei der Met ausgebrannt. Aber Lafferton hatte ihr ein neues Leben gegeben und ein neues Gespür für Verantwortung. Sie wusste, dass sie manche Fälle zu sehr an sich heranließ, sie in
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