Hill, Susan
ihre Träume einbaute, aber sie war, wer sie war, und sich in eine andere Form zu zwingen wäre ein Betrug. Es würde sie, dessen war sie sich sicher, auch zu einer weniger effektiven Polizeibeamtin machen.
Tief in Gedanken versunken, wich sie einen Schritt vom Weg ab, als ein Auto um die Kurve bog und sie mit den Scheinwerfern erfasste. Freya drehte sich um, als der Fahrer bremste und hupte.
»Freya?«
Das grelle Licht blendete sie. Das Fenster des silbernen BMW glitt hinunter, die Scheinwerfer wurden abgeblendet.
»Wer ist da?«
Als sie ein paar Schritte näher kam, erkannte sie ihn mit freudigem Schreck.
»Sir?«
»Was machen Sie denn hier so ganz alleine?«
»Ich komme von der Chorprobe in der Kathedrale. Ich war so spät dran, dass ich keinen Parkplatz mehr bekommen habe, daher musste ich mein Auto hier abstellen.«
»Hat meine Mutter mitgesungen?«
»Und wie. Sie ist mit den anderen ins Cross Keys gegangen, aber mir war heute nicht danach.«
»Warten Sie.«
Er parkte sein Auto neben einem der dunklen Häuser, stellte den Motor ab und stieg aus.
»Sind Sie hier, um Meriel abzuholen?«
Er lachte. »Nein, um nach Hause zu gehen. Ich wohne hier.«
»Du meine Güte. Ich wusste nicht, dass hier jemand wohnt, dachte, das wären alles Büros.«
»Fast. Es gibt Büros und mich. Die Geistlichen wohnen alle am anderen Ende, direkt bei der Kathedrale.«
»Soso.«
»Kommen Sie mit rauf und schauen Sie es sich an. Trinken Sie etwas mit mir am Ende eines schlimmen Tages.«
Wie leicht bedeutsame Worte oft klingen, dachte sie, wie ungezwungen ein Satz, den sie vielleicht für den Rest ihres Lebens wie ein kostbares Objekt mit sich herumtragen würde. »Kommen Sie mit rauf und schauen Sie es sich an. Trinken Sie etwas mit mir.« Sie folgte ihm in das dunkle, stille Gebäude und die Treppen hinauf, betrachtete seinen Rücken, seinen Kopf, seine weißblonden Haare, seine langen Beine, die Schuhe, die er trug, die Farbe seiner Socken, prägte sich alles ein. Als junger Mensch kneift man sich, um zu sehen, ob das alles tatsächlich passiert, ob man es selbst ist und wach und lebendig. Jetzt konnte sie kaum atmen, aber das unwirkliche Gefühl war dasselbe, der Unglauben, die geschärfte Wahrnehmung. Die Freude.
Serrailler. Sie starrte auf das Namensschild neben der Tür. Serrailler. Die Buchstaben waren keine gewöhnlichen Buchstaben. Der Name war erleuchtet. Serrailler.
Er trat vor ihr ein. Licht wurde angeschaltet. Freya blieb im Türrahmen eines Zimmers stehen, das ihr den Atem nahm.
Er sah sie an und lächelte, dieses Lächeln, das sein Gesicht erhellte, das ganze Zimmer, den Raum zwischen ihnen. »Einen Drink? Kaffee?«
»Lieber Kaffee.« Ihre Stimme klang seltsam, aber er schien es nicht zu bemerken.
»Stört es Sie, wenn ich einen Whisky trinke?«
»Natürlich nicht.«
»Setzen Sie sich doch.«
Er ging durch eine Tür zur Linken. Mehr Licht, helleres Licht auf blassen Wänden. Die Küche.
Freya trat ans Fenster. Die Läden waren offen, und sie sah hinunter auf den stillen, vom Licht der Straßenlaternen beleuchteten Kathedralenhof. Trotz des Gefühls, hier in diesem erstaunlichen Raum zu sein, von Simon Serrailler eingeladen worden zu sein, trotz ihrer zitternden Hände gingen ihre Gedanken wieder zu den vermissten Frauen. Sie hatte Angst um sie, und die Enttäuschung, nichts erfahren, nichts entdeckt zu haben, war unerträglich. Jede Stunde, die verging, bedeutete Zeit, in der etwas hätte getan, etwas Lebenswichtiges hätte entdeckt werden können. Sie hatte die Akten immer wieder durchgelesen, nach etwas gesucht, das sie vielleicht übersehen hatte. Sie drehte sich um und betrachtete erneut den Raum. Er war perfekt, hatte alles, was sie wohl auch ausgesucht hätte, aber besser entworfen und arrangiert, als sie es hätte tun können – Möbel, Teppiche, Bilder, Bücher, die Beleuchtung, der Abstand zwischen allem genau richtig. Sie sah sich die vier gerahmten Zeichnungen über dem schokoladenbraunen Ledersofa genauer an. Venedig – die Kirchen Santa Maria della Salute und San Giorgio Maggiore, dazu zwei Kirchen, die sie nicht kannte, der Strich kraftvoll und klar, die Details minuziös und doch wunderbar sparsam. In der unteren rechten Ecke waren jeweils die Initialen »SO« gerade noch zu erkennen.
»Hier, bitte schön.« Er kam mit einem Tablett aus der Küche und stellte eine Glascafetiere, Milch, Zucker und einen kleinen Keramikbecher auf den niedrigen Tisch.
»Von wem sind die
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