Himmel der Suende
einem Fetzen, den er vom Saum seiner Kutte abriss.
Dann packte er sie wieder und schleifte sie hinüber zu der Kapelle des Klosters. Er zerrte sie die Stufen nach oben und durch das weit offen stehende Portal hinein. Der Steinboden der Kapelle und die noch wenigen, übrig gebliebenen Bänke waren voller Schwalbendreck. Die Vögel hatten das verlassene Gebäude wohl schon vor Jahren zu ihrem Nistplatz erkoren.
Bezal’El schleppte sie durch die gesamte Länge des Kirchenschiffs bis vor zum Altarraum und dann auf den Altar selbst. Durch die bunten und größtenteils zerbrochenen Fenster darüber fiel das Licht der Morgensonne wie strahlende Speere in die ansonsten düster wirkende kleine Halle.
Plötzlich hatte er noch mehr Ketten in der Hand und fesselte sie eilig, aber sorgfältig noch sehr viel fester.
„Dieses Mal wirst du mir keinen Strich durch die Rechnung machen“, sagte er, baute sich neben ihr auf und zog einen Dolch.
„Sie vielleicht nicht“, sagte eine Stimme vom Eingang her. „Ich aber ganz bestimmt!“
Es war eine weibliche Stimme.
Bezal’El wirbelte herum, und auch Anya drehte den Kopf so weit sie konnte nach rechts.
Die Frau auf der Schwelle des Portals war dieselbe, die im Gewölbe des Herrenhauses in Stein verwandelt worden war. Anya erkannte sie an der Stimme. Jetzt hatte sie die Kapuze abgezogen, und Anya konnte ihr langes, seidig schwarzes Haar sehen, die helle, fast weiße Haut, die kristallblauen Augen, die blutroten, zu einem verächtlichen Lächeln verzogenen Lippen.
„Tami’El“, sagte Bezal’El verwirrt. „Wie konntest du dich befreien?“
„Ein alter Feind kam zufällig vorbei“, sagte sie. „Das Schicksal spielt manchmal schon seltsame Spiele mit uns.“
Sie zog zwei Schwerter, die gerade irgendwie aus dem Nichts aufgetaucht waren.
„Das Schicksal tut nichts anderes, als seltsame Spiele mit uns zu spielen“, entgegnete er, und plötzlich hielt er eine lange Zweihandsense mit fürchterlich großer und am Rücken gezackter Klinge in den Fäusten. Damit sah er aus wie der leibhaftige Gevatter Tod.
„Steck die Schwerter weg und herrsche an meiner Seite“, sagte er.
„Ja, ja“, sagte sie. „Und der Scheck ist in der Post. Klar. Neben ,Es ist nicht so, wie es aussieht, Schatz!‘ die zwei am meisten verwendeten Lügen der Weltgeschichte.“
„Du kannst mir vertrauen“, sagte er.
„So wie unser Gebieter dir vertraut hat?“, fragte sie. „Der erste Moment, in dem ich dir den Rücken zudrehen würde, und ich hätte einen Dolch darin.“
„Was macht dich so sicher, dass es dir mit dem, den du ,Gebieter‘ nennst, nicht ganz genauso ergehen wird? Wusstest du, dass er ein Bündnis mit Ashmo’Deush eingegangen ist?“
Anya sah, wie die Frau mit den Schwertern stutzte. „Luzifers Kriegsherrn?“
„Eben jenem“, sagte Bezal’El.
„Du lügst!“
„Wenn du in dich hineinhörst, weißt du, dass ich die Wahrheit sage, Tami’El.“
„Warum sollte er das tun?“
„Ja, warum wohl?“, fragte Bezal’El. „Hört sich das für dich nach einer Befreiung der Himmel an oder vielleicht eher doch nach einer Eroberung und totaler Machtergreifung?“
„Falls das, was du sagst, stimmen sollte, warum willst du dann tun, was du gerade vorhast zu tun?“, fragte sie. „Wenn er sich tatsächlich mit Ashmo’Deush verbündet hat, hast auch du nicht den Hauch einer Chance. Zumal du deine stärksten Krieger, wie ich gerade gesehen habe, bereits verloren hast.“
Bezal’El lachte.
„Nach all der Zeit unterschätzt du mich noch immer, Tami’El?“, fragte er. „Auch ich habe einen Deal mit Ashmo’Deush. Er stellt seine Truppen dem zur Verfügung, der zuerst in den Besitz der Schlüssel gelangt. Und das werde ich sein.“
„Wirklich ein guter Plan“, sagte sie spöttisch. „Sich mit jemandem mit solch wechselhaften Loyalitäten einzulassen. Andererseits kennst du selbst dich ja inzwischen damit am besten aus.“
„Ashmo’Deush ist leicht zufriedenzustellen“, sagte Bezal’El. „Ähnlich wie Luzifer hat er kein echtes Interesse an der Arbeit, die hinter dem Herrschen steckt, nur an den Früchten. Er wird mich regieren lassen, solange ich dafür sorge, dass er in Saus und Braus leben kann. Und mit der Zeit wird er bequem werden und unachtsam, und dann schaffe ich ihn mir vom Hals.“
„Nette Art, mich davon überzeugen zu wollen, an deiner Seite zu kämpfen und zu regieren.“
„Es liegt ganz bei dir“, sagte er. „Entweder stellst du dich auf
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