Himmel über Darjeeling
Augen.
»Hinaus!«
Taumelnd stand Winston auf und verbeugte sich mechanisch. Wie in Trance nahm er wahr, dass er den roten Teppich entlangging, sich die Türflügel öffneten und hinter ihm wieder in Schloss fielen, und in dem gleichen betäubten Zustand wanderte er die menschenleeren Korridore entlang, von deren Wände seine Schritte überlaut widerhallten. Er fragte sich noch nicht einmal, wo Bábú Sa’íd abgeblieben war. Seine Gedanken kreisten allein um die eben erlittene Niederlage.
Er war so schockiert, dass er noch nicht einmal Zorn empfinden konnte, nur blankes Entsetzen und Scham. Noch nie in seinem Leben hatte er sich derart gedemütigt gefühlt. Wie ein Schuljunge hatte Dheeraj Chand ihn in Grund und Boden geredet und abgekanzelt, schließlich hochkant hinausgeworfen – ihn, der sich von Kindesbeinen an immer durch sein Wissen und seine bestechende Logik hervorgetan hatte, ihn, der an Anerkennung und Lob gewöhnt war, von Lehrern wie von Vorgesetzten, für seine Leistungen, seinen Fleiß und seinen Mut.
Sein militärisch geschultes Gedächtnis fand den Weg zurück durch die labyrinthähnlichen Gänge, und wie ein geprügelter Hund öffnete er leise die Tür des Zimmers, in dem er untergebracht war, in der Hoffnung, Bábú Sa’íd dort nicht anzutreffen, um nicht von dem Geschehen berichten zu müssen und damit das Gesicht vor seinem sepoy zu verlieren.
Doch schlagartig verflogen diese Gedanken, wichen einem ungläubigen Erstaunen, als bei seinem Eintreten Bábú Sa’íd und der Sohn des Rajas ihr angeregtes Gespräch unterbrachen und ihn ansahen.
»Wie zum Teufel – «, entfuhr es Winston auf Englisch, als er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Es war ihm anzusehen, dass er fieberhaft überlegte, wie der junge Chand, eben noch mit dem Fürsten und ihm im Thronsaal sitzend, nun vor ihm hier eingetroffen sein konnte, ohne außer Atem zu sein, und offensichtlich schon länger in seine Unterhaltung mit Winstons sepoy vertieft.
Mohan Tajid lehnte sich in seinem Sessel zurück, und ein spitzbübisches Grinsen breitete sich auf seinem bartlosen Gesicht aus.
»Kein Rajputenpalast ohne Geheimgänge! Wer wie ich hier aufgewachsen ist, hatte genug Zeit und Grund, die meisten davon aufzuspüren und kennen zu lernen. Rajputana ist zwar das Land der Wunder und der Magie, aber nicht alles, was auf den ersten Blick nach Hexenwerk aussieht, ist es auch nach dem zweiten noch.«
Winston brauchte ein paar Augenblicke, eher er begriff, dass der junge Chand in zwar akzentbeladenem, aber fast fehlerfreiem Englisch mit ihm gesprochen hatte. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
»Wo haben Sie unsere Sprache so gut gelernt? – Eure Hoheit«, fügte er rasch hinzu, sich der Regeln der Höflichkeit besinnend.
Das Grinsen Mohan Tajids vertiefte sich.
»Genau das würde ich Sie gerne ebenfalls fragen, Captain Neville! Das und noch einiges mehr.« Er nickte Winston zu. »Nennen Sie mich einfach Mohan Tajid.«
Winstons soldatisches Misstrauen meldete sich, und seine Miene verfinsterte sich.
»Weiß Seine Hoheit, der Raja, dass Sie hier sind?«
Mohan Tajids Gesicht wurde urplötzlich ernst. »Nein. Und er sollte es besser auch nicht erfahren.« Er senkte seine Stimme. »Hier haben die Mauern Augen und Ohren, die auch für den Eingeweihten oftmals nur schwer zu entdecken sind. Kommen Sie!« Rasch stand er auf und ging in großen, aber nahezu geräuschlosen Schritten auf die gegenüberliegende Wand zu und machte sich dort an einer der mit Schnitzereien verzierten Holztäfelungen zu schaffen, die ringsum die Wände bedeckten. Ohne einen Laut schnappte die mannshohe Platte nach innen auf und enthüllte eine gähnend schwarze Öffnung. Der junge Chand nahm ein Laterne von dem am nächsten stehenden Tisch und bedeutete Winston mit einer ruckartigen Bewegung des Kopfes, ihm zu folgen.
Winston zögerte. Wenn dies nun eine Falle war? Konnte er dem Sohn des Rajas trauen? Geduldig wartete Mohan Tajid auf ihn. Der junge Inder, beinahe ebenso groß wie Winston selbst, war schlank und durchtrainiert. Dunkel wie poliertes Holz stach seine Haut vom grellen Weiß der Uniform ab. In seinen schwarzen Augen blitzten Abenteuerlust und eine Spur von Schalk, aber Winston konnte keine Spur von Hinterlist oder Bosheit darin entdecken. Und obwohl sein Verstand ihn warnte, riet sein Instinkt ihm, Mohan Tajid zu vertrauen, und er nickte. Mit Handzeichen bedeutet er Bábú Sa’íd, hier auf ihn zu warten, ehe er in das Dunkel
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