Himmel über Darjeeling
Sitzhaltung schien Chand nicht weniger Würde und Macht auszustrahlen als auf seinem prächtigen Thron. Seine vier Wächter postierten sich in gebührendem Abstand um sie, aber nahe genug, binnen Sekunden einzugreifen, sollten sie Leib und Leben ihres Herrschers in Gefahr sehen.
»Ich schätze Sie nicht als einen Mann langer Vorreden ein«, begann der Raja das Gespräch zwischen zwei Bissen seines Curryhuhns. »Weshalb hat man Sie geschickt?«
Winston gelang es, seine Überraschung mit dem Gemüse- dal herunterzuschlucken. Die Direktheit, mit der Chand auf den Grund seiner Anwesenheit hier losging, entsprach so gar nicht dem Bild des listigen, ausweichenden Taktierers, als der er ihm geschildert worden war.
»Um Ihrem Land den Schutz der englischen Krone anzubieten.« Noch im selben Augenblick wusste er, dass er blind in die Falle gestolpert war, die Chand ihm mit seiner Frage gestellt hatte.
»Bräuchte mein Land den Schutz einer ausländischen Macht, hätte ich jegliches Recht verwirkt, sein Herrscher zu sein, und verdiente einen ehrlosen Tod.« Der harte, metallische Ton in Chands Stimme schien die Gläser mit dampfendem chai vibrieren zu lassen. Seine dunklen Augen kaum merklich verengt, starrte er Winston an. »In Wahrheit geht es doch nur darum, die alleinige Herrschaft über Indien an sich zu reißen, bis in die entlegensten Winkel der Wüste und des Himalaya. ›Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben‹ – steht es nicht so in eurer Heiligen Schrift?«
»Eure Hohheit, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir – «
Der Raja unterbrach ihn mit einem missbilligenden Zischlaut.
»Keine Drohungen, Captain.« Er schüttelte bedächtig, fast betrübt, den Kopf. » Zeit … Was weiß euer Volk schon über Zeit ?« Sein Blick bekam etwas Verächtliches, funkelte wie ein tiefschwarzer Diamant. »Ihr messt sie mit Euren Uhren – hübsche Spielzeuge, ich besitze etliche davon. Kleine Wunderwerke, bis man sie auseinander genommen und ihren Mechanismus verstanden hat. Ihr rechnet in Menschenaltern, prescht vorwärts auf den Gleisen eurer Dampfmaschinen. Doch das ist nicht das Wesen der Zeit. Die Zeit ist ein Rad, das sich unaufhörlich dreht und durch das Aufeinanderfolgen von Schöpfung und Zerstörung bewegt. Eine einzige dieser Folgen währt einen Tag und eine Nacht Brahmas, des Gottes der Schöpfung, und umfasst vier Weltzeitalter oder mehrere Millionen Menschenjahre. Das All entsteht bei Brahmas Geburt und wird bei seinem Tod vernichtet; dann beginnt der Kreislauf von Neuem. Und im Kleinen wiederholt unsere unsterbliche Seele, der brahman , diesen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, bis es uns gelingt, moksha zu erreichen, die Erlösung aus diesem ewigen Kreislauf. Das ist Zeit, Captain Neville.«
»Es mag sein, dass Sie das so sehen«, erwiderte Winston scharf, »aber – «
»Wir leben heute im Zeitalter des Kali Yuga , des Zeitalters von Laster und Gewalt, von Unwissenheit und Gier. Und es sind nicht nur die Reichtümer Indiens, die ihr in Besitz nehmen wollt – vor allem wollt ihr Macht, allein um der Macht willen. Aber eure Zeit hier läuft ab. Kennt ihr nicht die Geschichte der Schlacht von Plassey?«
Die berühmte Schlacht von Plassey … Es war der 23. Juni 1757, als Robert Clive in einem militärischen Bravourstück mit zahlenmäßig unterlegenen Truppen Siraj-ud-Daula , den nawab von Bengalen, besiegte und damit den Briten die militärische Vormachtstellung in Bengalen sicherte – der Beginn der englischen Herrschaft über Indien.
»Seit damals heißt es, dass eure Herrschaft nur hundert Jahre währen wird, ehe sie in Strömen von Blut untergeht. Es sind nur noch dreizehn Jahre bis dahin – euch bleibt nicht mehr viel von eurer Zeit …«
»Ich gebe nichts auf Prophezeiungen«, widersprach Winston heftig. »Es gibt kein unausweichliches Schicksal, nur den freien Willen und die daraus resultierenden Konsequenzen.«
Dheeraj Chand sah ihn lange an, ehe er mit erschreckend leiser Stimme wieder das Wort ergriff, jedes seiner Worte betont.
»Sie sprechen unsere Sprache, Captain Neville, aber von Indien wissen Sie ebenso wenig wie vom Leben. Wenn Sie nicht Acht geben, werden Sie dafür eines Tages teuer bezahlen, ebenso wie Ihr Volk. Ich hätte Sie für klüger gehalten. Sie sind für heute entlassen.«
»Eure Hoheit, ich – «, wagte Winston zu protestieren, doch der Raja fiel ihm donnernd ins Wort, ein zorniges Aufblitzen in seinen
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