Himmel über Darjeeling
zu erzählen.
Sitara kam als jüngstes Kind von Dheeraj Chand aus dem Geschlecht der Chandravanshis, der Mondgeborenen, und seiner geliebten Frau Kamala aus dem Geschlecht der Surayavanshis, der Sonnengeborenen, auf die Welt. Nach vier Söhnen und zwei Töchtern hatte niemand mehr daran geglaubt, dass die Götter ihnen nochmals ein Kind schenken würden, am allerwenigsten Kamala, doch sie taten es. Zwar nur ein Mädchen, aber eines, das so hell war wie der Mond und so schön wie die Sterne am Himmel über der Wüste, und so nannten sie es Sitara , der Stern. Schon wenige Wochen nach der Geburt wurde sie dem Sohn eines benachbarten Rajas versprochen, um den bereits mehrere Jahre haltenden Frieden zwischen den beiden Fürstentümern weiter zu festigen, und als Sitara wenige Monate alt war, wurde sie in einer feierlichen Zeremonie mit dem fünf Jahre älteren Biraj verlobt.
Ihre Kindheit auf Surya Mahal war glücklich. Mit ihrer Schönheit und ihrer angeborenen Anmut bezauberte sie den Raja und ließ sein hartes Herz vor Zuneigung überfließen, ließ ihn ihr eigensinniges Temperament und ihren Übermut nachsehen. Weil ihr Mohan Tajid im Alter am nächsten stand, verbrachten sie viel Zeit zusammen. Während die älteren Geschwister schon heirateten und Kinder zeugten, lernten die beiden eifrig zusammen, ritten aus und kämpften im Spiel gegeneinander, tollten im Palast umher und heckten Streiche aus. Sie waren ein Herz und eine Seele, sodass man sie scherzhaft Zwillinge oder Zwillingsstern nannte. Doch Sitara bedeutet auch Schicksal, und ihres war kein glückliches.
Sie war zehn, als im großen Innenhof von Surya Mahal die bal vivah , die Kinderhochzeit, von Sitara und Biraj gefeiert wurde, drei Tage und drei Nächte lang. Birajs Vater hatte auf Anraten seines Astrologen darauf gedrängt, der nach langen Berechnungen verkündet hatte, dass die Sterne für die Eheschließung nie wieder so günstig stehen würden. Dheeraj Chand war erst nach langen Verhandlungen dazu bereit gewesen, dieser frühen und rein formalen Hochzeit zuzustimmen, gab schließlich nach, als festgelegt wurde, dass Sitara erst mit fünfzehn ihren Platz als Birajs Ehefrau einnehmen sollte.
Nur wenige Monate später überbrachte ein Bote des anderen Fürstentums die Nachricht, Biraj habe ein Fieber ereilt. Bange Wochen verstrichen, bis die Kunde kam, dass seine Seele seinen Körper verlassen hatte. Sitara empfand keine Trauer um den jungen Mann, den sie nur während der Zeremonie gesehen, kein Wort je mit ihm gesprochen hatte, aber sie wusste, was es für sie bedeutete. Sie hatte Biraj über den Tod hinaus Gehorsam gelobt, und der Brauch und die Ehre der Rajputen verlangte, dass sie ihm durch das Tor der Flammen folgte. Dheeraj Chand glaubte, ihm würde das Herz aus dem Leibe gerissen, glaubte, den Verstand zu verlieren vor Schmerz und Zorn – doch seine Tochter trug schlechtes Karma , hatte Schande über den gesamten Clan gebracht und ihr jetziges Leben verwirkt. Ihm als Raja und Oberhaupt der Familie oblag die Pflicht, seine Tochter den Flammen zu übergeben und so von der Schande zu reinigen, um ihr eine günstige Wiedergeburt zu ermöglichen. Es waren grauenvolle Tage in jenem Jahr, und Sitara hatte den grausamen Tod im Feuer stündlich vor Augen, meinte schon den Geruch versengten Haares und verkohlten Fleisches zu riechen, wachte aus den wenigen Stunden Schlafes schreiend auf, weil sie die Hitze des Feuers und den Schmerz auf ihrer Haut zu spüren glaubte. Kamala weinte und flehte um das Leben ihrer jüngsten Tochter, Mohan Tajid fluchte und drohte, und Sitara selbst warf sich vor ihrem Vater zu Boden und bat um ihr Leben.
Schließlich ließ sich Dheeraj Chand erweichen und stellte Sitara vor die Wahl: Entweder bestieg sie den Scheiterhaufen zum traditionellen sati – oder sie ging in lebenslange Verbannung, als eine der so genannten Kindwitwen. Sitara entschied sich für Letzteres, auch wenn sie wusste, dass sie damit ihre Schande nicht völlig tilgen konnte und sie noch weitere Inkarnationen auf sich würde nehmen müssen. Es war wohl niemand erleichterter als Dheeraj Chand selbst, und doch brach es ihm das Herz, sich für den Rest seines Lebens von seiner Tochter zu trennen, um der Ehre der Familie und der Kaste willen.
Aber er selbst bestimmte einen verlassenen Turm in einem entlegenen Teil des Palastes zum Ort ihrer Verbannung, anstatt sie in die Wüste hinauszuschicken oder in einer Felshöhle auszusetzen, wie es der Brauch war, und
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