Himmel über Darjeeling
belauscht zu glauben, und er hatte begonnen, ihn immer öfter auch allein aufzusuchen.
Kaum hatte er die Schwelle übertreten, die vom letzten Saal in den Garten führte, empfing ihn schon das wohltuende Gefühl absoluten Friedens. Es war eine mondlose Nacht, und die unzähligen Sterne, klar und groß über der leeren Wüste, schienen im nächsten Moment herabfallen zu wollen, so nah waren sie. Es war noch immer warm. Das Land sehnte sich nach Regen, doch der Monsun ließ weiterhin auf sich warten. Der Staub der Wüste vor den Mauern mischte sich mit der Klarheit der Nachtluft und dem betörenden Duft der Blumen, dem feuchter Blätter und frisch gewässerter Erde, verflocht sich mit monotonem Grillengesang.
Winston schöpfte tief Atem und spürte, wie die Anspannung des Tages von ihm abfiel, als er die ersten Schritte über den gefliesten Boden tat. Seiner Gewohnheit nach schlug er den Weg ein, der zu der versteckt gelegenen Bank im hinteren Teil des Hofes führte, sog tief die Ruhe und das Gefühl der Freiheit ein.
Das Knacken eines Zweiges, ein hauchzartes Rascheln ließen ihn herumfahren, aggressiv, verteidigungsbereit, dann verblüfft, als er glaubte, einen Geist zu sehen, klein und schmal, weiß schimmernd, durchscheinend im Licht der Gestirne. Ein dünner Schreckenslaut hallte durch den Hof, hallte von den Mauern wider, und die Gestalt stürzte vorwärts, um ihm zu entkommen, verfing sich im Saum ihres Gewandes, taumelte und schlug hart auf den Kacheln auf. Eine Flut dunklen, glänzenden Haares, hüftlang, quoll unter dem Schleier hervor, fiel vor das Gesicht, und die Äpfel, die sie in den Händen gehalten hatte, rollten über den glatten Boden. Winston wollte ihr aufhelfen, erschrak, wie sehr sie zusammenzuckte, als er sie am Arm berührte, als erwartete sie Schläge. Behutsam ließ er sich auf die Knie nieder.
»Hab keine Angst, Mädchen«, redete er leise in Hindustani auf sie ein, »ich tue dir nichts!«
Sie reagierte nicht, schluchzte nur stumm in sich hinein. Vorsichtig strich er das dichte Haar aus ihrem Gesicht, erschauerte unter dessen schwerer Seidigkeit, spürte ihre Tränen auf seinen Fingern, und als sie ihn ansah, traf es ihn mitten ins Herz.
Sie war noch jung, ein halbes Kind, aber der Blick aus ihren großen, mandelförmigen Augen, nass vor Tränen, war uralt. Und sie war schön, unglaublich schön; ein herzförmiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, die Haut hell, in einem Farbton und Schimmer zwischen Alabaster und hellem Gold, der Mund fein geschwungen und voll, in einem sanften, matten Rot. Verängstigt sah sie ihn an, und dennoch lag in ihren tiefschwarzen Augen ein glückliches Leuchten, als hätte sie endlich gefunden, was sie schon so lange gesucht hatte.
»Komm.« Vorsichtig half er ihr auf und führte sie zu der Bank. Ihr schmaler Körper zitterte, fühlte sich so zerbrechlich an unter seinen großen Händen.
Unbeholfen setzte er sich neben sie, unsicher, was er als Nächstes tun sollte. Dass sie stumm vor sich hin starrte, ihn dabei doch verstohlen unter dem Vorhang aus dichtem Haar anstrahlte, einen Zipfel ihres weißen, schmucklosen Saris mit den schlanken Fingern auswringend, half ihm auch nicht weiter. Ohnehin nicht sonderlich erfahren, was Frauen betraf, fühlte er sich hilflos und linkisch, ließ seine Blicke ziellos durch den nächtlichen Garten wandern, die aber wie von selbst immer wieder zu dem seltsamen Mädchen neben ihm zurückkehrten.
Schließlich seufzte er auf und streckte die Hand aus, um ihr beruhigend über das Haar zu streichen. Als bemerkte sie erst jetzt, dass sie ihrer Kopfbedeckung beraubt war, schrak sie auf, tastete hektisch nach dem Ende der Stoffbahn, panisch bemüht, ihr Haar wieder zu verschleiern.
»Nein, lass«, entfuhr es Winston schärfer als beabsichtigt. Sie hielt inne und sah ihn erstaunt an. »Es – «, er schluckte, und seine Stimme klang belegt. »Es ist schön.« Verlegen erwiderte er ihren forschenden Blick, und nach kurzem Zögern ließ sie die Hände wieder in ihren Schoß sinken.
»Sag, Mädchen«, begann er von Neuem, »kannst du nicht sprechen?«
Sie holte Luft, ihre Lippen öffneten sich, aber heraus kam kein Laut.
»Wie heißt du? Wohin gehörst du?«, versuchte er es erneut.
Sie räusperte sich, und heiser, als sei sie das Sprechen nicht gewöhnt, sagte sie: »Ich – ich bin Sitara.«
Langsam, stockend, mit zunächst brüchiger Stimme, die dann aber rasch erstaunlich kräftig wurde und betörend melodisch, begann sie
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