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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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als sie in ihrem weißen, schmucklosen Sari weinend vor ihm kniete, um den Kopf geschoren zu bekommen, brachte er es nicht fertig, zog nur das Ende des Saris über ihren Kopf, um ihr Haupt zu verhüllen, ehe er sich mit versteinertem Gesicht abwandte und den Raum verließ.
    Nur wenige Bewohner des Palastes waren eingeweiht, darunter Paramjeet, der taubstumme Gärtner, der das Zwillingsgestirn der Rajputenfamilie immer mit den süßesten Früchten aus den Gärten verwöhnt hatte, den die Kinder immer mit Pantomimen zum Lachen gebracht hatten, und Sarasvati, Sitaras ayah, die auf eigenen Wunsch als Dienerin mit in die Verbannung ging. Und als sich das große Eingangstor nach dem tränenreichen Abschied von der Familie hinter Sitara und Sarasvati schloss, wussten nur Kamala, der Raja selbst und Mohan Tajid, dass die beiden nicht in das gleißende Licht der Sonne hinauswandern, sondern durch einen geheimen Eingang wieder den Palast betreten würden. Der unterirdische Gang wurde hinter Sitara und Sarasvati zugeschüttet, das Tor zum Garten vermauert. Nur durch eine kleine versteckte Öffnung sollte Paramjeet täglich Lebensmittel und frische Wäsche in den Turm hineinreichen.
    Da dieser Teil des Palastes schon lange verlassen war, wunderte sich auch niemand – niemand stellte Fragen, und als die ersten Gerüchte davon berichteten, der Turm sei verhext, glaubte jeder, dies schon von jeher gewusst zu haben. Denn wer genau hinhörte, meinte in der Stille der Nacht Weinen zu vernehmen, manchmal – ganz schwach und von weit her – den traurigen Gesang einer hellen Stimme, und bald nannte man den Turm nur noch Ánsú Berdj – der Turm der Tränen …
    Sitara glaubte, wahnsinnig zu werden hinter den dicken Mauern des Turms. Die Stunden, Wochen, Monate, Jahre vergingen quälend langsam, und die Tage und Nächte, die sie hinter sich brachte, waren nichts im Vergleich zu dem, was noch vor ihr lag. Unablässig wanderte sie im obersten Turmzimmer umher, von einer Wand zur nächsten, bis ihre bloßen Füße blasig waren und der Steinboden blank und beinahe durchscheinend. Unzählige Male war sie versucht, um Hilfe zu rufen, ihren Vater anzuflehen, sie zu befreien, auch wenn sie wusste, dass sie dann sati erwarten würde. Doch der Tod in den Flammen erschien ihr ungleich gnädiger, als ihr restliches Leben hier oben eingesperrt zu bleiben – sie, die nichts so sehr geliebt hatte wie den Wind in ihrem Haar auf dem Rücken eines Pferdes, die Sonne auf ihrer Haut, den Blick in einen endlosen Sternenhimmel oder mit ausgebreiteten Armen den ersten Regenguss des Monsuns zu empfangen.
    Wäre Sarasvati nicht gewesen, hätte sie sich bereitwillig dem Feuer ergeben. Sarasvati, ihre treu ergebene ayah – und ihr Bruder Mohan. Denn schon in der nächsten Nacht hatten Mohan Tajid und Paramjeet heimlich begonnen, den noch feuchten Mörtel aus den Fugen zu kratzen und Stein um Stein wieder abzutragen, den geheimen Gang mühselig von Schutt und Erde zu befreien und so wieder notdürftig begehbar zu machen. So oft er unbemerkt verschwinden konnte, stahl Mohan sich in den Turm zu seiner geliebten Schwester, und bald wagte sich auch Sitara in den Innenhof, meist aber nur im Schutz der Dunkelheit, wenn sie sicher sein konnte, dass niemand sich in die Nähe des verhexten Ánsú Berdj wagen würde. Was sie und Mohan erwartete, würde man sie entdecken – das wagten sie sich nicht auszumalen. Doch Vishnu war auf ihrer Seite, und bis zur heutigen Nacht war ihr Geheimnis bewahrt geblieben, sieben endlose Jahre lang.
    Die Sterne verblassten schon, und der Himmel hatte sich zu einem stumpfen Grau aufgehellt, als Sitara verstummte und ihre letzte Träne mit einem Zipfel des Saris aus dem Augenwinkel wischte. Selbst jetzt, erschöpft und heiser vom langen Sprechen, die Augen gerötet, war sie noch schön – so schön, dass Winstons Herz sich verkrampfte.
    »Ich werde Euer Geheimnis nicht verraten«, sagte er schließlich mit rauer Stimme.
    In Sitaras Gesicht schien ein kleines Lächeln auf, und Winston war es, als bräche die Sonne mit aller Macht durch eine dicke Wolkendecke.
    »Ich weiß.« Sie deutete auf eine der spitzenartigen Balustraden am Turm. »Ich habe Euch beide jede Nacht gesehen und gehört, und auch am Tag. Mein Bruder vertraut dir, also kann ich es auch.«
    Winston nickte verlegen und erhob sich abrupt.
    »Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.« Er tat einen Schritt und drehte sich dann noch einmal um. »Weshalb warst du ausgerechnet heute

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