Himmel über Darjeeling
zog sie wie von selbst einen dunklen Gang hinein und spie sie in einem hohen, weiten, von Öllichtern schummrig beleuchteten Raum wieder aus. Winstons Knie gaben nach, und er ließ sich auf einen Steinsims fallen, stumm und starr vor Entsetzen, sein Gesicht in den aufgestützten Händen vergraben. Erst als er einen festen Zug am Hosenbein verspürte, sah er auf.
Ein Äffchen saß vor ihm, krallte seine kleinen Finger in den vor Schmutz starrenden Stoff seiner Hose und sah ihn aus großen runden Augen an, bleckte schließlich angriffslustig die Zähne und gab einen missbilligenden Laut von sich, ehe es davonsprang.
Winston folgte ihm mit dem Blick, wie unter einem Bann, ehe es sich im Halbdämmer verlor. Langsam begann er, das Innere des Tempels wahrzunehmen, und sah sich um. Blau-weiß gemusterte Kacheln überzogen Boden und Wände. Überall standen einfache Öllämpchen aus gebranntem Ton, die meisten davon erloschen, doch die Schatten, die die übrig gebliebenen Flammen über Wände und Decken tanzen ließen, wirkten bedrohlich wie nächtliche Dämonen. Dann erst sah er sie – Affen, unzählbar viele, im Gewölbe des kleinen Tempels herumturnend, einander keckernd jagend oder vertraulich lausend, anscheinend in stummer Meditation dasitzend oder die drei nächtlichen Eindringlinge verwundert anglotzend.
Sein Blick fiel auf Sitara, die unweit von ihm auf dem Boden kauerte, die Arme eng um ihre angezogenen Knie geschlungen, vor sich hin starrend. Vor seine Augen schob sich ein anderes Bild: wie sie im verlöschenden Licht der zu Boden gefallenen Fackeln über dem Mann stand, den sie soeben getötet hatte, breitbeinig, die Hand, mit der sie den tödlichen Stoß ausgeführt hatte, noch in der Luft, den Mund leicht geöffnet und mit wildem Blick, halb erschrocken, halb zufrieden – wie eine Raubkatze, die sich und ihr Junges eben erfolgreich verteidigt hatte.
Als hätte sie seine Gedanken gespürt, sah sie nun auf und erwiderte seinen Blick, und er schauderte, denn er glaubte, eine Fremde vor sich zu haben. Er wollte zu ihr gehen und sie in die Arme schließen, doch er konnte es nicht. Eine unerklärliche Scheu hielt ihn gefangen, und beschämt wandte er die Augen ab.
»Du siehst so betreten aus wie eine peinlich berührte Betschwester«, schreckte ihn Mohans halblaute Stimme aus seinen Gedanken auf. »Du willst mir doch nicht etwa weismachen, dass du noch niemanden in deinem Leben getötet hast?«
Winston wagte es kaum, Mohans forschenden Blick zu erwidern, den er auf seiner Haut brennen spürte, und Blut schoss ihm ins Gesicht, als er schließlich den Kopf schüttelte. Er hatte in seinen bisherigen Dienstjahren Glück gehabt, war nie an die Front eines kleineren Scharmützels oder gar des vernichtenden Krieges in den rauen Bergen Afghanistans abkommandiert worden, doch nun fühlte er sich dafür bis auf die Knochen bloßgestellt.
Mohan schnalzte verächtlich mit der Zunge.
»Vishnu steh mir bei – du bist Soldat , Winston! Was lernt ihr eigentlich in eurer grandiosen Armee? Ihr könnt von Glück sagen, dass es bislang zu keinen größeren Unruhen im Land gekommen ist. Sollten Hindus und Moslems eines Tages ihre Zwistigkeiten beiseite legen und sich gegen euch feringhi stellen – dann bittet euren allmächtigen Gott um Gnade, denn das wird dann das Einzige sein, was euch retten kann.« Mit versöhnlicher Stimme fügte er hinzu: »Hier, iss«, und hielt ihm eine Holzschale mit Obst unter die Nase.
Winston machte eine abwehrende Geste. »Das sind Opfergaben.«
Mohans Augen blitzten übermütig auf, als er mit dem Kopf eine leichte Bewegung in den Raum hinein machte. »Hanuman wird es uns nachsehen.« Und er biss herzhaft in eine Feige.
Erst jetzt bemerkte Winston die lebensgroße Statue im Zentrum des Tempels und er stand auf, um sie näher zu betrachten. Eine muskelbepackte Männergestalt, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, kniete auf einem Podest. Sein Gesicht, starkknochig, mit einer ausgeprägten Kieferpartie, war halb Mensch, halb Affe, und mit beiden Händen riss er sich die Brust auf, die so den Blick auf ein Götterpaar, Mann und Frau, freigab.
»Das sind Rama und Sita«, erklärte Mohan ihm leise hinter seinem Rücken. »Hanuman ist der Held des Ramayana. Er ist der Sohn Vajus, des Gottes der Winde, von dem er die Kraft des Wirbelsturms und die Fähigkeit zu fliegen erhielt. Er ist stark und klug, und niemand kommt ihm an Gelehrsamkeit gleich. Eines Tages versteckte sich Hanuman im Wald und
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