Himmel über Darjeeling
hinabzog.
Er schien nur kurz geschlafen zu haben, als er ein leichtes Rütteln spürte. Es kostete ihn unglaubliche Mühe, die Lider zu öffnen. Sitara sah ihn aus erschrockenen Augen an, und er spürte, wie sie sich versteift hatte. Es war Mohan, der ihn geweckt hatte und der sogleich in einer winzigen Geste warnend einen Finger an die Lippen legte. Winston blinzelte und hob den Kopf. Vereinzelt brannten noch Lampen, warfen zuckende Schatten über die schlafenden Leiber der Reisenden. Nun wachte niemand mehr; alle Aufregung, alles Reisefieber hatte sich gelegt, Körper und Geist hatten ihre Rechte unnachgiebig eingefordert. Synkopisches mehrstimmiges Schnarchen war zu hören, und irgendwo weinte leise ein Säugling. Winston zog verständnislos die Brauen zusammen, sah Mohan fragend an, doch dann hörte er es auch: Reiterstiefel, knallend auf dem Steinboden, raschelnd in den ausgestreuten Binsen, murmelnde Männerstimmen in hartem, militärischem Tonfall.
Mohan nickte ihm vertrauensvoll zu und deutete auf eine Holztür am anderen Ende des Raumes. Leise erhoben sich die drei, dankbar, dass die Schläge ihrer Herzen nicht zu hören waren, rafften ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und schlichen geduckt in kontrolliert langsamen Bewegungen durch den Raum, angestrengt darum bemüht, zwischen den dicht beieinander liegenden Schlafenden niemanden anzustoßen oder durch eine zu hastige Bewegung aufzuschrecken.
Langsam, Inch um Inch, öffnete Mohan die Tür, nur so weit, dass sie einer hinter dem anderen hindurchschlüpfen konnten, in milde Nachtluft hinein, und leise zog er sie wieder zu – keinen Augenblick zu spät, denn im nächsten Moment brach, kaum durch die Latten der Tür gedämpft, ein Tumult hinter ihnen los. Frauen kreischten, Kinder heulten gellend, Männer brüllten, noch halb verschlafen, als die Krieger des Rajas die Herberge auf der Suche nach den drei Flüchtigen auf den Kopf stellten.
Sie begannen zu laufen, so schnell sie konnten, aus dem Hinterhof auf die offene Straße, im schützenden Schatten der schnurgerade aufgereihten Häuser. Ratten stoben erschreckt davon, huschten über das Pflaster, sahen ihnen neugierig hinterher, flohen weiter vor den knallenden Stiefeln und bellenden Stimmen, die in einigem Abstand folgten. Abweisend blickten verschlossene Fensterläden und Türen sie an, eine einzige glatte Front ohne das geringste Schlupfloch. Endlich eine schmale Gasse, in die sie einbogen, während sie in der Ferne schon ihre Verfolger hörten.
Blind rannte Winston Mohan und Sitara hinterher, erstaunt darüber, dass sie in der Lage war, trotz ihrer Schwangerschaft noch so behände zu laufen. Sie bogen rechts ab, dann wieder links, in immer weiter sich verjüngende Gassen, dann prallte Mohan gegen ein Tor. Verschlossen.
Keuchend blieben sie stehen, sich die schmerzenden Seiten haltend, und versuchten sich in der Dunkelheit zu orientieren.
»Weißt du, wo wir sind?«, stieß Winston hervor und presste Sitara an sich, die vor Angst und Erschöpfung zitterte.
»Nein, woher auch?«, entgegnete Mohan atemlos und packte ihn im nächsten Moment hart am Arm.
Winston hielt den Atem an und lauschte in die Dunkelheit hinein. Schritte näherten sich, laut, bedrohlich entschlossen, als wüssten sie, dass ihre Beute in der Falle saß. Seine Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt, und er konnte die Silhouette Mohans erkennen, der sich leise zurück an ihre letzte Abzweigung schlich. Ein Muskel von Winstons Oberschenkel zuckte unkontrolliert, zur Flucht bereit, und es kostete ihn unglaubliche Willenskraft, sein Leben und das Sitaras ganz Mohan anzuvertrauen.
Erst später, als alles vorüber war, gelang es ihm, die Bruchstücke der nächsten Sekunden wieder zusammenzusetzen. Die beiden Rajputenkrieger bogen mit gezückten Schwertern und erhobenen Fackeln um die Ecke. Mohan ergriff den einen und schlitzte ihm in einer raschen Bewegung mit seinem Dolch die Kehle auf, ehe er ihn sanft zu Boden gleiten ließ. Sitara hatte sich von Winston gelöst und rammte dem zweiten ihren Dolch zielgenau in die Brust, ehe dieser einen Laut von sich geben konnte, und sein Körper sackte lautlos auf der Leiche seines Begleiters zusammen.
Meckernd schoss ein Affe an ihnen vorüber, und in der Dunkelheit blitzten Mohans Zähne hell auf.
»Ein Gruß von Hanuman. Nichts wie hinterher.«
Winston fühlte sich gepackt und weitergezerrt, in die andere Richtung der Gasse, und im nächsten Moment verschluckte sie ein Gebäude,
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