Himmel über Darjeeling
aus den aus China importierten Samen und Setzlingen möglichst ertragreiche und qualitativ hochwertige Teepflanzen zu züchten und diese experimentell an verschiedenen Standorten in Indien anzubauen.« Er stand auf und winkte Winston zu sich an den Schreibtisch, wo er unter den fächerartig ausgebreiteten Notizen eine Karte Indiens hervorzog und mit dem Mundstück seiner Pfeife einen flachen Bogen von rechts nach links zog, entlang der Kette des Himalaya von Ost nach West, und dabei der Reihe nach auf unterstrichene Ortsnamen deutete.
»Hazari-Gebirge, Kumaon, Garhwal, Mussorie, Dehra Dun. Vieles steckt noch in den Kinderschuhen und wird erst in den nächsten Jahren ins Laufen kommen, aber die Pläne sind bereits abgesegnet, die Gelder bewilligt.« Er sah Winston offen an. »Es wäre mir recht, wenn ich jemanden meines Vertrauens vor Ort mit der Rodung, der Pflanzung, der Ernte und Produktion beauftragen könnte. Das Gehalt wäre nicht üppig, aber es würde für eine kleine Familie gut ausreichen.«
Winston schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nichts von Pflanzen, geschweige denn vom Tee.«
»Das lässt sich lernen. Ich beabsichtige ohnehin, einen oder mehrere Teemanufakteure aus China kommen zu lassen. Und die verstehen eine Menge davon. Also – was hältst du von meinem Angebot?«
Winston starrte nachdenklich auf die ausgebreitete Karte. Hatte er eine andere Wahl?
»Geht es nicht noch weiter weg?«, fragte er schließlich mit einem nervösen, angespannten Auflachen.
William antwortete mit einem breiten Grinsen und tippte mit dem Mundstück auf einen unmarkierten Namen im westlichen Himalaya, unweit der Grenze zu Kaschmir. »Kangra. Ein reizvolles Tal, mit erstaunlich mildem Klima und einem freundlichen, offenen Menschenschlag.«
»Weshalb ist es auf deiner Karte nicht markiert?«, fragte Winston misstrauisch, in der Witterung eines Makels.
»Es gehört zum Hoheitsgebiet der Sikhs, mit einem Marionetten-Raja aus einer alten Rajputen-Dynastie. Ich weiß aus gut unterrichteter Quelle, dass England nicht uninteressiert ist, diesen Teil des Himalaya unter die Kontrolle der Krone zu bringen. Sagen wir: Die Uhren ticken bereits.«
»Du willst uns in ein potentielles Kriegsgebiet schicken?«
William schüttelte den Kopf.
»Mitnichten. Dieses Gebiet hat zwar strategische Bedeutung, aber nicht oberste Priorität. Es dem englischen Herrschaftsgebiet hinzufügen zu wollen ist eine lediglich vorbeugende Maßnahme. Die Generäle würden sich wohler fühlen, wenn die politische Grenze Kolonialindiens bis an die natürlichen Grenzen des Landes reichten. Kangra ist ein sehr verschlafenes Tal, mit weit verstreuten Dörfern und Ansiedlungen, fernab aller politischer Konflikte und Krisen. Es wird sicher nicht von einer britischen Armee überzogen werden – das lohnt die Mühe gar nicht erst. Wenn ihr irgendwo sicher untertauchen könnt, dann dort.«
»Gib mir einen Tag Bedenkzeit«, entgegnete Winston heiser, mit trockener Kehle.
»Gern«, nickte William und schob die Karte wieder unter seine ausgebreiteten Notizen. »Ich würde jetzt ganz gerne nach deiner – hm – Frau sehen, vielleicht kann ich was für sie tun …«
Es traf Winston wie ein Schlag ins Gesicht, als er in diesem Augenblick begriff, dass er Sitara niemals würde heiraten können – ein Toter kann kein Heiratsdokument unterzeichnen, und eine Eheschließung unter falschem Namen wäre ebenso ungültig wie gar keine. Ein Gefühl tiefer Schuld erfüllte ihn, und er fragte sich, ob sie jemals in der Lage sein würden, ein friedliches, ehrbares Leben zu führen – oder ob sie die Gnade Gottes mit ihren Sünden auf immer verwirkt hatten.
Während William sich um Sitara kümmerte, spazierten Mohan und Winston durch den in abendlicher Stille daliegenden Garten, und während die Dämmerung langsam ihre Schwingen über dem Laubhimmel niederließ, erzählte Winston von Williams Angebot. Als er den Namen des Tals erwähnte, stieß Mohan einen leisen Pfiff aus.
»Das alte Kangra …«
Winston sah ihn erstaunt an. »Du kennst es?«
»Nur aus Geschichtsbüchern und vom Hörensagen. Kangrah bedeutet ›Die Festung des Ohres‹. Der Legende nach wurde es über dem Ohr des dort vergrabenen Dämons Jalandhara erbaut – manche meinen, es heiße so, weil der Hügel, auf dem es liegt, der Form eines menschlichen Ohres ähnelt. In früheren Zeiten reichte der Ruhm dieser Festung durch ganz Indien, und man sagte, sie sei uneinnehmbar. Tatsächlich hatten die
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