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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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ihren Füssen die Scherben einer tönernen Schale, von denen aus sich ein Teich aus Suppe über den steinernen Fußboden ausbreitete. Emily drückte sich verängstigt in eine Ecke, die verschlissene Stoffpuppe, die Mira Devi ihr genäht hatte, fest umklammert. Angst, Aufruhr, Entsetzen standen erstickend im Raum, und auch wenn Ian nicht verstand, was wirklich geschehen war, so konnte er Mira Devis Gestammel auf Kangri doch wenigstens ein paar verständliche Fetzen entnehmen: Rajputen. Krieger. In der Stadt. Suchen euch.
    Obwohl er vier Jahre älter war, begriff er ebenso wenig wie seine kleine Schwester, weshalb sie in das Zimmer geschickt wurden, das Winston für sie beide hergerichtet hatte, wo sie zu warten hatten, bis man sie holte. Er verstand nicht, worüber sich seine Eltern, sein Onkel, Mira Devi, ihr Mann, der unter Tientsin im Teegarten arbeitete, und Tientsin selbst in der Küche so lautstark stritten, in einem Gemisch aus Hindustani, Kangri und Englisch, dem er kaum ein klares Wort entnehmen konnte, sosehr er auch die Ohren aufsperrte, während er Emily an sich drückte, die mit ihren Tränen sein Hemd durchfeuchtet hatte, zusammengekauert auf dem Bett mit den von Mira Devi bestickten Kissen, in dem sie beide zu schlafen pflegten. Nur einmal hörte er eine Faust auf einen harten Untergrund donnern und seinen Vater auf Englisch brüllen: »Aber wohin denn, verdammt?«
    Ein Augenblick der Stille trat ein, schlimmer als die aufgeregten Stimmen zuvor, ehe wieder hektisches Gemurmel einsetzte. Er wusste nur, dass er Angst hatte, Angst wie nie zuvor in seinem Leben, und dass etwas geschehen sein musste, das alles verändern würde. Emilys Atemzüge wurden ruhiger, tiefer, und tröstend strich er ihr über den Kopf, als sie einschlief, murmelte beruhigende Worte in das hellbraune Haar seiner Schwester, und er wünschte sich, ihn würde jemand in den Arm nehmen, ihm sagen, dass alles wieder gut würde, dass sie nichts zu befürchten hatten. Doch niemand kam.
    Die Zeit schien stillzustehen – es hätten nur Minuten oder auch Stunden vergangen sein mögen, als sich das kompakte Stimmengewirr in einzelne Sätze auflöste, Befehle, Rufe, Schritte, die hin und her eilten, sich durch alle Räume verstreuten, vereinzelt wieder zusammentrafen. Scharren, Klappern, Klirren, ein Schreckensruf seiner Mutter, ein kurzes Aufschluchzen, dann beruhigendes Murmeln, Rascheln, Poltern, von draußen das empörte Wiehern eines Pferdes. Sehnsüchtig dachte Ian an die sonnenbeschienenen Wiesen jenseits dieses Zimmers, an die klare, süße Frühlingsluft und den Duft der nassen Teeblätter.
    Er fuhr auf, als sich endlich die Tür öffnete und sein Onkel eintrat.
    »Große Überraschung! Wir unternehmen einen langen Ausritt, wir alle zusammen!« Mohan machte ein vergnügtes Gesicht, doch seine betont fröhlichen Worte klangen falsch, hatten einen düsteren Unterton. Ian sah ihn forschend an, und als Mohan sah, dass er ihm nicht glaubte, wandte er den Blick verlegen ab. Sachte hob er die schlafende Emily auf, und mit angstvoll klopfendem Herzen folgte Ian ihm.
    Das Sonnenlicht blendete ihn, als er über die Schwelle trat, und er blinzelte ein paarmal, ehe er die vier gesattelten und bepackten Pferde erkannte, die unruhig hin- und hertänzelten. Auf einem saß Mira Devis Mann mit finsterer Miene, ein anderes hielt sein Vater mit nicht weniger grimmigem Gesichtsausdruck am Zügel. Im ersten Moment durchzog Ian ein Gefühl der Erleichterung, als er bemerkte, mit wie wenig Gepäck sie reisen würden, doch als er sah, wie sich seine Mutter und Mira Devi weinend in den Armen hielten, krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Als sie an ihnen vorübergingen, streckte Mira Devi eine Hand nach Emily aus und machte eine segnende Geste über dem schlafenden Kind, und ihn selbst drückte sie so fest an ihren mageren Körper, dass es schmerzte. Wie betäubt ließ er es über sich ergehen, sog nur unbewusst noch einmal ihren Geruch nach Salz und Erde und Kräutern ein, der ihm von seiner ersten Stunde an so vertraut war, ehe er dem Wink seines Vaters folgte und sich in den Sattel schwang. Winston stieg hinter ihm auf. Sitara raffte ihre Kurta, um aufzusteigen, wischte sich über ihre nassen Wangen, ehe sie entschlossen die Zügel ergriff, einen bitteren Zug um die Mundwinkel, der Ian erschreckte. Ohne eine Sekunde länger zu zögern, setzten sich die Pferde schaukelnd in Bewegung, in gemächlichem Schritt. Ian wandte sich um, als sich der Palast

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