Himmel über Darjeeling
liebte – trotz allem. Und wie sehr sie ihn hasste.
»Du gottverdammter Mistkerl, verschwinde von hier!«
Impulsiv packte sie die Kristallfigur, die auf dem Nachttisch stand und schleuderte sie in seine Richtung. Der Spiegel zerbarst in tausende Splitter, die klirrend zu Boden fielen. Sie hatte gut gezielt, aber Ian war schneller gewesen und in einer eleganten Drehung ausgewichen. Mit ausdrucksloser Miene griff er nach seinem Rock und ging zur Tür.
»Deine Neigung zu Dramatik war mir schon immer unerträglich. Spar sie für deinen Lord auf; bei ihm erreichst du damit, was du willst. Nicht bei mir.« Er drehte den Türknauf nach rechts und wandte sich noch einmal kurz um, deutete ironisch eine knappe Verbeugung an. »Leben Sie wohl, Lady Fitzwilliam.«
Starr blickte sie in Richtung des Spiegels, in dessen Rahmen noch eine einzige große Scherbe steckte. Sie sah ihr halbiertes Spiegelbild, das rote, verquollene Gesicht, das immer noch hübsch war, aber in diesem Moment so alt aussah, wie es ihr tatsächlich entsprach, ihr zerzaustes dunkles Haar, und der Riss, der durch ihr Abbild hindurchlief, schien auch mitten durch sie zu gehen. Tränen rannen über ihre Wangen, während das Geräusch der zufallenden Tür laut in ihr widerhallte.
6
W ie eine Schlafwandlerin schlich Helena durch das große, stille Haus, während Jason über seinen Büchern schwitzte und Margaret eifrig schwatzend mit den Schneiderinnen und Putzmacherinnen zusammensaß. Abgesehen von den Stunden, die sie mit Mohan Tajid verbrachte, der ihr die ersten Begriffe in Hindustani beibrachte, waren ihre Tage leer. Sie hätte nicht sagen können, wie viele seit jenem ersten Morgen vergangen waren, ob zehn oder hundert. Von London hatte sie noch nichts gesehen, aber es verlangte sie auch nicht danach. Manchmal fühlte sie sich wie ein Geist, der keine Ruhe fand und doch nicht mehr lebendig war.
Die mitternachtsblaue Seide – Konzession an die offizielle Trauer, in der sie sich noch befand – des eng geschnittenen Kleides, dessen Saum hinten in einer kurzen Schleppe auslief, raschelte bei jeder ihrer Bewegungen. Das Korsett darunter zwang sie, sich aufrecht zu halten, aber sie spürte es nicht einmal, wenn Margaret die Schnüre noch ein wenig enger zog. Alles an ihr schien taub und stumm – abgesehen von dem, was sie an jenem Abend gespürt hatte, als Ian ihr Schlafzimmer aufgesucht hatte. Noch immer schoss ihr das Blut ins Gesicht, wenn sie an seine Nähe dachte, an diese Hitze, die von ihm ausging und sie durchströmt hatte und die so wenig zu dem Mann zu passen schien, der ihr kühl und gleichgültig beim Frühstück gegenübersaß, sich mit einem flüchtigen Kuss, der ihre Wange nur streifte, von ihr verabschiedete, ehe ihn wieder eilige Geschäfte aus dem Haus trieben, von denen er oft erst spät in der Nacht zurückkehrte. Sie hörte dann seine Schritte, die sich an das andere Ende des Ganges bewegten, zu seinem Zimmer, ohne dass er je wieder bei ihr hineingesehen hätte, und den Rest der Nacht lag sie dann grübelnd wach, ehe gegen Morgengrauen ihr Körper sein Recht forderte und sie in einen bleiernen Schlaf versank, aus dem sie den ganzen Tag nicht mehr zu erwachen schien.
Im Salon, der ganz in Dunkelblau und Silber gehalten war, ließ sie ihren Blick über den mit Büchern und Zeitungen bedeckten Tisch schweifen, als ein Name inmitten der gleichförmigen Reihen schwarzer Lettern ihr gleichsam entgegensprang. Mit einer dunklen Ahnung griff sie nach der Zeitung, die so säuberlich gefaltet war, als hätte jemand absichtlich den entsprechenden Text hervorheben wollen, und überflog die Zeilen.
Nachrufe – Sir Henry Richard Thomas Claydon, geboren den 23. September 1821 auf Oakesley Manor, verstorben eben dort den 17. November 1876 … tragischer Unglücksfall … besondere Verdienste als Oberst der königlichen Armee in Ostindien im Krieg von 1857 … hinterlässt seine Gattin Lady Sophia Daphne Claydon, née Mowbray, und die Kinder Miss Amelia Sophia Philippa und Mr. Alastair Henry Philipp … Beisetzung am …
Helena ließ die Zeitung sinken. »Tragischer Unglücksfall«, murmelte sie bestürzt.
»Entsetzlich, nicht wahr?«
Helena fuhr herum. Lautlos, wie es seine Art war, hatte Ian den Salon betreten, elegant wie immer in einem perlgrauen Anzug mit taubenblauer Weste. Sie hätte nicht sagen können, wie lange er sie schon beobachtet hatte. Seine Augen funkelten, als hätte ihr Anblick angesichts der schrecklichen Nachricht ihm ein
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