Himmel über Darjeeling
unheimliche Stille empfing sie hier, und das Donnern der Wellen unter dem Kiel und das Zischen der Gischt schienen nur ein Teil dieser Stille zu sein.
Oft döste Helena in der Sonne oder mittags im Schatten in einem Liegestuhl vor sich hin, spielte Fangen mit Jason oder schlug mit ihm Bälle quer über das Deck, von denen etliche unter lautem Aufjauchzen und Gelächter über die Reling hinweg auf Nimmerwiedersehen in den Fluten verschwanden. Es waren heitere Tage, kaum beschwert von den Gedanken, weshalb sie auf diesem Schiff waren oder was sie am Ende dieser Reise erwarten mochte, erleichtert auch dadurch, dass sie Ian kaum zu Gesicht bekam. Der schwache Geruch nach Tabakrauch, der die Kabinentür am Ende des Unterdecks umstand, verriet ihr, dass er sich dahinter verbarg, aber was ihn dort Stunden, ja Tage festhielt, dass er kaum je zu den Mahlzeiten im Salon erschien, vermochte sie sich nicht vorzustellen, und sie zog es auch vor, nicht weiter darüber nachzudenken. Seine Abwesenheit ließ sie leichter atmen, und dafür war sie dankbar.
Es war Mohan Tajid, der allgegenwärtig war, Helena weiter in Hindustani unterrichtete und die Stapel an Aufgaben überwachte, die Mr. Bryce Jason mitgegeben hatte und über denen er mehrere Stunden täglich schwitzte und stöhnte. Und langsam, fast zögerlich, schlichen sich erste Fragen nach dem Land ein, das ihre Zukunft war, von dem sie so gar nichts wusste, und Mohan Tajid gab bereitwillig Auskunft, abends, im Salon, in dem der Schein der Kerzen in den massiven Messingleuchtern das dunkle Holz wie von innen aufschimmern ließ.
»Indien reicht von den eisigen Höhen, bewaldeten Bergen und grünen Tälern des Himalaya im Norden, über die Wüsten im Westen, die Steppen und das Buschland, über die fruchtbaren Felder entlang der Flüsse, bis hin zu den Regenwäldern und Stränden im Südwesten und den Reisebenen im Gangesdelta des Südostens. Es ist ein altes Land, unermesslich reich und zugleich unvorstellbar arm; seine Geschichte, bewegt und wechselhaft, reicht bis fast dreitausend Jahre vor Christi Geburt zurück: Indien erlebte viele Invasionen, und oft beherrschten Fremde seine Völker. Doch aus jeder Fremdherrschaft ging das Land reicher und vielfältiger hervor; kaum zu zählen sind seine Völker, Sprachen und Religionen. Die Mogulherrscher brachten den Islam ins Land – doch ich kann nur von meinem Indien erzählen, woher ich komme und was ich gesehen habe.
Wir Hindus werden in einer der vier Kasten, oder varnas , Farben, hineingeboren. Zuoberst stehen die Brahmanen, die Priester, dann die kshatriyas , die Herrscher und Krieger, die das Land schützen sollen. Dies hier«, er zeigte auf die dreifache gezwirbelte goldene Kordel, die von seiner linken Schulter zu seiner rechten Hüfte quer über seinen Körper hing, »ist das Zeichen der beiden oberen Kasten. Unter ihnen stehen die vaishyas , die Bauern und Händler, und ihnen folgen die shudras , die Diener aller. Außerhalb dieser vier varnas stehen die harijans oder parias , die Unberührbaren – wer sie berührt, wird unrein, denn sie kennen keine der Tabus unseres Glaubens. In welche varna man geboren wird, ist Karma, Schicksal, und bestimmt die Aufgabe, die man in diesem Leben übernehmen muss.
Ich weiß nicht, wie man als Brahmane lebt oder als vaishya – ich kann nur von mir selbst sprechen. Ich wurde als kshatriya geboren, in eine alte Familie von Rajputen. Der Name kommt von rajputas und bedeutet Fürstensöhne. Und das sind wir: die Söhne von Fürsten und Herrschern und Kriegern. Bei uns sagt man, der Rajpute verehrt sein Pferd, sein Schwert und die Sonne und hört mehr auf das Kriegslied des Sängers als auf die Litanei des Brahmanen.
Ehre und die Heiligkeit eines einmal gegebenen Wortes gehen uns über alles – sogar über das eigene Leben und das unserer Familien. Derjenige, der die Riten der Vorfahren mutwillig missachtet oder zerstört, muss in der Hölle enden. Es gibt für einen kshatriya nichts Verdienstvolleres, als den Krieg zu führen, den sein Karma ihm vorschreibt. Unsere Vorfahren waren Helden, und das ist unser Erbe, unser Dharma.«
»Dharma?«
Helena sah ihn ratlos an. Mohan Tajid lächelte.
»Dharma ist das Grundgesetz des Universums, die Grundlage aller Dinge. Es drückt sich in der Ordnung des Kosmos aus und im rechten Handeln – ein moralisches Gesetz, das man im Einklang mit seinem Karma befolgen muss. Karma bestimmt das Schicksal eines jeden von uns – unser Karma in diesem
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