Himmel über Darjeeling
lächelte sie wissend an. »So schließt sich der Kreis: Nach ihm wurde ich benannt, und ihn habe ich erwählt, um ihm mein Leben zu widmen.«
»Ich wünschte, ich wüsste, welches mein Karma ist«, murmelte Helena unwillkürlich, Mohans Anwesenheit fast vergessend.
»Dass Sie hier sind, das ist Karma«, antwortete er leise. »Es war unausweichlich, es musste sein, und es hat einen Sinn.«
»Aber welchen?«, brach es aus Helena heraus, die gegen die Tränen ankämpfte, die sie wieder aufsteigen spürte. »Es erscheint mir alles so sinnlos.«
Mitfühlend sah Mohan sie an. »Sie haben wie eine Löwin dagegen angekämpft und scheinbar verloren. Aber ich weiß, dass Sie aus einem bestimmten Grund hier sind – keine Existenz, kein Lebensweg ist ohne Sinn. Wer verstanden hat, wie alle Dinge dieser Welt zusammenhängen, vergießt keine Tränen mehr. Denn für den, der die Welt mit dem rechten Verständnis betrachtet, gibt es keinen Kummer – so steht es geschrieben.«
»Haben Sie je dagegen angekämpft?«
Mohan Tajid lachte, ein leises, tiefes, sympathisches Lachen. »Oh ja, sehr oft sogar. Aber was hätte es genützt? Karma ist Karma. Kämpfen hätte nur Leiden bedeutet – in diesem Leben wie im nächsten.«
Helena rang mit sich. Sich ihrer Lage zu ergeben erschien ihr unendlich demütigend, und ihr gesamter Stolz bäumte sich ungebärdig dagegen auf. Und doch spürte sie deutlich, dass es das Einzige war, was sie tun konnte. Es war nicht zu ändern – sie war verheiratet, unterwegs in ein fremdes Land, an einen fremden, unbekannten Ort, der für den Rest ihres Lebens ihr Zuhause sein würde, an der Seite eines fremden Mannes, über den sie kaum etwas wusste.
Mohan musste gespürt haben, was in ihr vorging, denn er nahm sie sacht beim Arm.
»Sie sind nicht allein. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie möchten.«
Helena schluckte hart. Schließlich sah sie zu Mohan empor, und die Wärme und Zuneigung in seinen Augen gaben ihr einmal mehr das Gefühl, in Sicherheit zu sein.
Schließlich nickte sie.
Sie lernte viel von Mohan Tajid – nicht nur, sich recht schnell in Hindustani zumindest über die einfachen Dinge des Lebens ausdrücken zu können, sondern auch über die vielgestaltige Götterwelt der Hindus, deren Eigenarten und Symbolik das alltägliche Leben bestimmten, in Kleidung, Gebräuchen und den zahllosen Festen des dreizehnmonatigen Mondjahres; über die wechselvolle Geschichte des Landes und seiner Teile: den Kämpfen zwischen den Mogulherrschern und den Maharajas, die Eroberung der Küste durch Portugiesen und Franzosen im 17. Jahrhundert, dann durch die Briten im 18. Jahrhundert, die von Bengalen aus fast den gesamten indischen Subkontinent für sich einnahmen. Oft erzählte er abends Helena und Jason, der ihm mit offenem Mund lauschte, die alten Sagen und Legenden: von Rama, dessen Gefährtin, die schöne Sita, von Ravana, König der Dämonen, entführt worden war und die er mit Hilfe des Affengottes Hanuman befreien konnte; vom Sieg des alten Helden Indra über den Riesendämon Vritra, der die Welt mit Chaos, Unwissenheit und Dunkelheit geknechtet hatte; von der Listigkeit des elefantenköpfigen Gottes Ganesh, der, beleibt wie er war, zum Wettlauf um die Welt gegen seinen flinken Bruder Skanda antrat – während Skanda auf seinem Pfau davonjagte, umkreiste Ganesh seine Eltern Shiva und Parvati und erklärte sich als Sieger, da seine Eltern ja das ganze Universum darstellten; diejenigen von Shiva und Parvati selbst, von Krishna und dem Krieger Arjuna. Für Helena, die wenig Unterweisung im christlichen Glauben gehabt hatte, ähnelten die Geschichten denen der griechischen Mythen, mit denen sie aufgewachsen war, befremdeten sie daher kaum, und manchmal verschwammen die Abende, an denen sie mit Mohan so beisammensaß, Jason an sie geschmiegt, mit den südlichen Nächten ihrer Kindheit, in denen ihr Vater hinter dem Haus, dessen Mauern noch die Wärme des Tages abstrahlten, ihr zwischen duftendem Thymian und Oleander leise die alten Geschichten erzählte, untermalt vom stetigen, auf- und abschwellenden Gezirpe der Grillen, und auf eine seltsame Weise linderte es den alten Schmerz, tröstete und heilte.
Obwohl es bald Mitte Dezember war, wurden die Nächte spürbar wärmer. Schweigen hatte sich zwischen Mohan Tajid und Helena gesenkt, die in einem Winkel des Decks saßen, der vor dem scharfen Fahrtwind des Schiffes geschützt war. Ruhig glitt die Kalika durch das tintenschwarze Meer; nur das heftige
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