Himmel über Darjeeling
Zischen sich an ihrem Bug brechender Wellen verriet, mit welcher Geschwindigkeit sie sie ihrem Ziel entgegentrug. Gläserne Windlichter gaben gedämpftes Licht, doch außerhalb ihres Scheines breitete sich die schwarze Nacht aus, übersät mit unzähligen funkelnden Sternen, gestochen scharf und zum Greifen nahe.
Helena nippte an ihrer Tasse. Der Geschmack des Tees nach süßen, reifen Früchten wurde durch eine Orangenscheibe auf dem Grund des hauchdünnen Porzellans noch unterstrichen. Obwohl in dem dämmrigen Licht sämtliche Farben zu verschiedenen Abstufungen von silbernem und goldenem Grau verblichen waren, wusste sie, dass der Tee im Tageslicht kupferfarben gegen die Innenwand der Tasse leuchtete, so anders als das stumpfbraune Gebräu, das sie in World’s End immer getrunken hatten.
»Schmeckt er Ihnen?«
Helena nickte. »Sehr gut.«
»Das ist ein second flush , aus der zweiten Ernte zwischen Juni und August, der in Sonne und Sommermonsun gewachsen ist.« Er sah sie abwartend an und fügte dann hinzu. »Er stammt von Shikhara.«
Shikhara … Etwas in dem Namen, in der Art und Weise, wie Mohan ihn betont hatte, ließ ihn in ihr widerhallen, wieder und wieder … Shikhara.
»Ians Teegarten, nordöstlich von Darjeeling«, fügte er erklärend hinzu.
»Was bedeutet Shikhara?« Helena hatte gelernt, dass Hindustani – wie Sanskrit, die Jahrtausende alte Sprache des alten, heiligen Indiens – eine Sprache war, in der die Worte tiefere, oft verborgene Bedeutungen hatten und in ihren Lauten Bilder und Symbole mit sich trugen.
»Genau lässt sich der Name nicht übersetzen. Im Hindustani bedeuten shikar und shikari Jagd und Jäger. Im Himalaya haben die oft in einsamen Tälern stehenden steinernen Tempel eine einzigartige Form, wie ein steiler Berggipfel, und nach dem Wort dafür wird dieser Baustil auch shikhara genannt. Gipfel, Tempel, Jagd, Jäger – das alles in etwa bedeutet dieser Name.«
Tempel – wofür? Jagd – wonach?, ging es Helena durch den Kopf, aber sie sprach es nicht laut aus; stattdessen fragte sie: »Wie ist es dort?«
»Ah.« Ein breites Lächeln erschien auf Mohans dunklem Gesicht und ließ seine weißen Zähne im Halbdunkel aufleuchten. »Shikhara ist so nahe am Paradies, wie ein irdischer Ort es nur sein kann. Nach Norden erstrecken sich die schneebedeckten Gipfel und Grate des Himalaya, und darunter wellen sich die grünen Hügel der Wälder und Teesträucher. Die Luft dort oben ist so klar und frisch, duftet nach Laub und den Blüten der Bäume und Teesträucher. Es liegt ein unglaublicher Friede darüber, wie von den Göttern selbst gesegnet, denen wir Hindus im Himalaya so nahe sind. Das Haus selbst ist halb im traditionellen Stil des Gebirges gebaut, halb im englischen. Edle Hölzer und Teppiche, Kunsthandwerk – Sie kennen ja Ians guten Geschmack.«
»Ja.« Das Gefühl unbestimmter Sehnsucht nach diesem Ort, das sich schon beim Klang des Namens eingestellt hatte, von Mohans kurzer Schilderung noch vertieft, schlug um in das dumpfe Schuldbewusstsein, das sich in den vergangenen Tagen in ihr breitgemacht hatte. In der ersten Zeit an Bord, nachdem Jason sich von seiner Seekrankheit erholt hatte, hatte sie all den Luxus, der sie umgab, als fast selbstverständlich hingenommen, war sie allein damit beschäftigt gewesen, zu essen, zu schlafen, die Sonne und die frische Luft an Deck zu genießen und zu lernen. Erst allmählich wurde ihr die Anzahl von Bediensteten bewusst, die für ihr Wohlergehen sorgten, nicht eingerechnet die Männer, die unter Deck schufteten, im Kesselraum, in Küche und Kühlkammer und was sich noch im Bauch des Schiffes verbergen mochte. Die luxuriöse Ausstattung des Schiffes aus edlen Hölzern, Seide und Samt, immer von einem Duft nach Sandel- und Rosenholz durchweht, die spitzenumrandeten Bezüge der Koje, in der sie Nacht für Nacht schlief; die teuren Kleider wie das aus leichtem weißen Musselin, das sie heute Abend trug; jeden Tag Mahlzeiten in mehreren Gängen – morgens bereits ein üppiges Frühstück, zum Lunch und Dinner sahnige Suppen, gedämpfter Fisch, gefüllte Pasteten, Huhn, buntes Gemüse, Lammbraten, Käse, als Dessert Obst, Eiscreme oder Kuchen, Gurkensandwiches und Petits Fours zum Tee – Helena hatte nur eine vage Vorstellung davon, was das alles kosten mochte, aber sie ahnte, dass es Unsummen sein mussten, mehr, als sie in ihrem Leben je besessen hatte.
»Er besitzt sehr viel Geld, nicht wahr?«
Mohan nickte bestätigend.
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