Himmel über Darjeeling
Leben ist bestimmt durch unser Handeln im vorangegangenen Leben. Wer sich gegen sein Karma auflehnt, dagegen handelt, wird wiedergeboren, Leben um Leben im ewigen Kreislauf der Wiedergeburt, des samsara . Wer sein Karma jedoch annimmt, mit ihm handelt statt dagegen, der betritt den Pfad zu brahman , dem allumfassenden Göttlichen, und kann so die Befreiung, moksha , vom Kreislauf der Wiedergeburt erlangen. Allein das Erkennen des Karmas, das wirkliche Begreifen, kann die Erlösung bedeuten. In den alten Schriften, den Veden, heißt es: ›Und wärst du der Schlimmste der Sünder – diese Erkenntnis allein trüge wie ein Floß dich über die Sünde hinweg.‹ Erkenntnisfeuer macht Karma zu Asche.«
Helena schwirrte der Kopf. Ihre Wangen glühten, und in ihr lehnte sich alles gegen das Gehörte auf, gegen das Schicksal, das sie hierher gebracht hatte. Die bislang so erfolgreich beiseite geschobenen Gedanken an ihr Los, die Mohan Tajids Erzählung in ihr wieder hatten aufkommen lassen, waren ihr unwillkommen – sie wollte nicht daran denken, wie sie so vieles nicht wollte. Sie wollte ihr altes Leben zurück, und wie sie spürte, dass sie gegen das ihr aufgezwungene Schicksal rebellierte, so spürte sie, dass dieser Kampf vergeblich sein würde. Rasch stand sie auf, bewegte sich hastig und ziellos durch den Raum, ehe sie vor einer bronzenen Statue stehen blieb, die sie vom ersten Moment an ebenso abgestoßen wie fasziniert hatte: eine große achtarmige Frauengestalt, tanzend, die Augen aufgerissen, ihre Zunge weit herausgestreckt, eine Kette aus Totenschädeln um den Hals. Im zuckenden Widerschein der Flammen wirkte sie lebendig und furchterregend, und doch konnte Helena ihren Blick nicht von ihr lösen.
»Kali, die schwarze Göttin«, hörte sie Mohan hinter sich sagen.
»Die dem Schiff ihren Namen gegeben hat«, fügte Helena leise hinzu, »die Göttin des Todes und der Zerstörung.«
»Für manche ist sie auch die Göttin der Rache. Sie erscheint, um die Feinde Shivas zu schlagen, und schmückt sich mit ihren Schädeln. Aber sie ist auch die Göttin der Wiedererweckung, denn sie ist auch mächtig im Kampf gegen die Dämonen, und wenn sie diese besiegt hat, kann sie die von ihnen verschlungenen Menschen wieder in das Leben zurückholen.«
Helena wandte sich halb um.
»Ist Rache nicht ein Auflehnen gegen das Schicksal?«
»Nicht, wenn die Rache das Karma ist, weil nur so Dharma wiederhergestellt werden kann. In der Bhagavadgita, dem Gesang des Erhabenen, der wohl wichtigsten unserer Heiligen Schriften, zweifelt der Krieger Arjuna vor der großen Schlacht an der Richtigkeit seines Handwerks. Krishna, der sich als sein Wagenlenker getarnt hat, überzeugt ihn jedoch in einem langen Dialog zwischen den beiden, dass es seine Aufgabe ist, in der Schlacht zu kämpfen – nicht für Ruhm und Ehre, sondern weil es seinem Karma entspricht.«
Er war aufgestanden und zu ihr getreten, berührte sie leicht am Arm und wies in die gegenüberliegende Ecke des Salons, wo in den Schatten eine andere Statue stand: eine ebenfalls tanzende, aber vierarmige Männergestalt, umgeben von einem Kranz züngelnder Flammen.
»Shiva, Kalis Gemahl, das männliche Prinzip. Kali ist die schwarze Seite von Shakti, der weiblichen Macht. Shiva bedeutet der Gütige, der Freundliche, und er ist wie Kali der Gott der Zerstörung und der Auflösung. Er wird oft als Tänzer dargestellt, der unter seinen Füßen die Schöpfung zertritt.«
Helena sah ihn verständnislos an.
»Wie kann er dann gütig sein?«
»Indem er das Alte zerstört, kann Neues entstehen, durch die Macht Brahmas, des Schöpfers. Shiva ist der widersprüchlichste Gott, der Gott der Gegensätze, der Fruchtbarkeit wie der Askese, aber durch seine Widersprüchlichkeit hält er das Rad der Welt am Laufen. Ohne ihn gäbe es ewigen Stillstand, ewigen Tod.«
»Und Sie beten diesen Gott an?« Helenas Worte drückten Abscheu und Unverständnis aus.
Mohan schüttelte den Kopf.
»Nein. Mein Karma ist es, Gott Vishnu zu meinem ishta , meinem Ideal, erwählt zu haben. Vishnu ist der Bewahrer, der Hüter des Dharmas; jedes Mal, wenn die Welt aus den Fugen gerät, eilt er zu Hilfe. Er nimmt die Gestalt der Menschen an, um ihnen zu helfen, indem er ihnen neue Wege zeigt und wie sie auf diesen Wegen wachsen können. Sein achtes Erscheinen auf der Welt war die Verkörperung des Gottes Krishna, Held vieler Legenden und Sagen. Und Krishna trägt in einer der Legenden den Beinamen Mohan.« Er
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