Himmel über Darjeeling
»Sehr viel. Aber Sie ja nun auch – was ihm gehört, gehört Ihnen genauso.«
Helena riss erschrocken die Augen auf und schüttelte abwehrend den Kopf.
»Ich will es aber nicht!«
Mohan Tajid lachte. »Es ist aber so – vor dem Gesetz wie in Ians Augen. Was immer Sie möchten – ich weiß, Ian würde es Ihnen gern zu Füßen legen. Er tut es ja bereits.«
Helena fühlte sich elend, ohne dass sie genauer hätte sagen können, weshalb.
»Warum ich?« Klagend und zornig stellte sie die Frage, die ihr seit Wochen auf der Seele brannte.
Mohan schwieg einen Moment.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich. »Ich kann nur vermuten, dass er Sie haben musste, um jeden Preis, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen – und ich denke, er weiß selbst noch gar nicht, was er jetzt mit Ihnen anfangen soll.«
Shikari – der Jäger … Heiß schoss Helena das Blut ins Gesicht, als sie an jenen ersten Abend in London dachte, als er ihr so nahe war, an die Hitze, die ihr durch den Körper strömte, dass sie zu schmelzen glaubte, und sie betete, dass es Mohan in den zuckenden Schatten der Lichter entging.
Offenbar hatte er ihr erschrockenes Schweigen, ihr rasches Abwenden ihres Blickes missdeutet; er dämpfte seine Stimme, als er eindringlich sagte: »Denken Sie nicht schlecht von ihm. Was er tut, tut er nicht aus bösem Willen heraus. Er wurde im Zeichen des Wasserträgers geboren, aber er trägt auch viel von einem Skorpion in sich – und wie ein Skorpion sticht er nur, wenn man ihn verletzt. Aber dann schlägt er tödlich zurück. Und er vergisst niemals.«
Helena fror plötzlich. Sie ahnte, dass sie ihm in ihrer unbezähmbaren Wut an jenem Abend, vor dem Ball, etwas an den Kopf geworfen hatte, was ihn zutiefst verletzt hatte – wenn sie sich doch nur erinnern könnte, was es gewesen war … Ian schien ihr unberechenbarer denn je, und ihr künftiges Leben an seiner Seite kam ihr vor wie eine schwere, beinahe unmögliche Aufgabe, deren Lösung ihr Verstand ihr nicht näher bringen konnte, und ein falscher Zug konnte für sie zur Bedrohung werden.
Lautes Gelächter riss sie aus ihren Gedanken. Jason rannte polternd über das Deck, rief schon von weitem ihren Namen, ehe er sich erhitzt auf sie stürzte und sie mit den Armen umschlang.
»Nela, stell dir vor, ich war unten im Kesselraum, und im Kühlraum, ich habe mir die Maschinen genau angeschaut! Die Männer waren ganz schwarz im Gesicht, vom Ruß, und Ian hat mir gezeigt, wie die Kolben unter Dampf das Schiff antreiben!« Begeistert strahlte er über die Schulter hinweg Ian an, der zu ihnen getreten war.
Einen Augenblick lang sah Helena wie eine Außenstehende auf die Szenerie hier an Deck. Eine Familie … ging es ihr durch den Kopf. Und was all die Jahre nur eine Ahnung gewesen war, verdichtete sich zur Klarheit – dass sie für Jason mehr wie eine Mutter denn wie eine ältere Schwester empfand, dass sie versucht hatte, bei Jason Celias Platz einzunehmen, von dem Tag an, als sie, ein kleines Mädchen noch, nach Hause zurückgekehrt war, um am Totenbett ihrer Mutter, die wächsern, starr und kalt dalag, Abschied zu nehmen, um dann voller Staunen und Ehrfurcht an der Wiege des winzigen, so zerbrechlichen Säuglings zu stehen. Sie sah Ian an – und wusste, dass er diesen Moment genauso empfand wie sie. Sie sah es an der Art, wie er sich hielt, an etwas Weichem, Verletzlichem, das er ausstrahlte. Eine Familie – die Familie, die wir beide so früh hergeben mussten … Einen Herzschlag lang wirkte Ian unschlüssig, ob er näher kommen sollte, fast unsicher, ehe er sich abrupt umwandte und im Dunkel verschwand.
Nachdenklich presste Helena den Kinderkörper an sich, teils um sich zu wärmen, teils um seine Lebendigkeit zu spüren, während Jason vor Energie sprühend Zukunftspläne schmiedete.
»Wenn ich groß bin, werde ich Ingenieur und baue dann noch größere und schnellere Schiffe. Ian sagt, dazu muss ich noch mehr Arithmetik und Geometrie lernen, da werde ich mich noch ganz ordentlich anstrengen müssen, meint er …«
»Komm, junger Mann, für dich wird es Zeit«, hörte sie Mohan Tajid sagen und Jason halbherzig – wenn deshalb auch nicht minder lautstark – protestieren.
»Aber nur, wenn du mir noch eine Geschichte erzählst!«
»Versprochen«, lachte Mohan.
Hin- und hergerissen zwischen Mohan und Helena, drückte er seine Schwester noch einmal so fest, dass sie kaum Luft bekam.
»Ich hab Ian schon jetzt ganz lieb«, flüsterte er ihr mit
Weitere Kostenlose Bücher