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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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roch die frische Sauberkeit seines Hemdes, den Tabakrauch, eine herbe Seife, und darunter etwas, das nur er selbst sein konnte, warm, holzig und männlich. Ihr Blick fiel auf die Narbe auf seiner Wange, gezackt und unregelmäßig, vom Jochbein bis fast an sein Kinn reichend. Was ihm die Wunde auch beigebracht haben mochte, es musste ihm entsetzliche Schmerzen bereitet haben. Helena konnte nicht anders: Sie musste sie berühren, strich zart mit den Fingerspitzen darüber, und Tränen schossen ihr in die Augen.
    Laute Männerstimmen, die auf Hindustani brüllten, innerhalb des Zuges wie draußen, die schweren Stiefel der Wachen, die den Gang vor der Tür entlangdonnerten, das Wiehern scheuender Pferde, dann Schüsse – zwei, drei, mehrere – und Schreie, die in der Nacht widerhallten.
    Abrupt machte sich Ian von ihr frei.
    »Ich muss nachsehen, was passiert ist.« Seine Stimme klang rau.
    » Nein! « Helenas Hand krallte sich in sein Hemd. Egal, was dort draußen geschehen sein mochte – solange Ian und sie hier beieinander waren, waren sie in Sicherheit. Sie ertrug den Gedanken nicht, dass er sich in die Gefahr begab, die außerhalb der Wand aus Eisen, Stahl und Holz lauerte.
    »Es freut mich, dich einmal so anschmiegsam zu erleben. Das ist dieser Aufruhr auf jeden Fall wert.« Ein Lächeln schien in seinen Augen auf, dessen Wärme seinem spöttischen Tonfall widersprach. Bestimmt schob er sie von sich und stand auf. »Kümmere dich um Jason, er braucht dich sicher.«
    Als wäre dies sein Stichwort gewesen, riss Jason die Tür auf, stürmte zu Helena und warf sich in ihre Arme. Ian schenkte ihnen noch einen kurzen Blick, den Helena nicht zu deuten vermochte, ehe er nach draußen eilte.
    Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Weit entfernt hörte sie gedämpfte Männerstimmen, aber sie waren zu leise, um auch nur zu ahnen, was draußen vor sich ging. Beruhigend redete sie leise auf Jason ein, wiegte ihn tröstend in ihren Armen, während die Angst sie selbst in ihrem eisigen Griff hielt. Vergingen Minuten oder Stunden? Sie wusste es nicht, schien jedes Zeitgefühl verloren zu haben. Sie wartete … wartete …
    In der Tiefe des Schlafes spürte sie, dass sie hochgehoben wurde. Wie aus großer Entfernung hörte sie die Lokomotive zischen, spürte die Vibration des fahrenden Wagens. Mühsam öffnete sie die Augen und blickte in die von Ian. »Was – ?«, murmelte sie schlaftrunken.
    »Schhh«, antwortete er mit einem kaum sichtbaren Lächeln, »sei unbesorgt – es ist alles in Ordnung. Du bist im Salon eingeschlafen.«
    Ihr Kopf war schwer; fast von selbst legte er sich an Ians Schulter, schlossen sich ihre Lider wieder. »Jason?«
    »Mohan hat ihn eben zu Bett gebracht«, flüsterte er in ihr Haar, und das Gefühl der Geborgenheit, das er damit in ihr auslöste, ließ sie im Halbschlaf lächeln.
    Sie spürte die Laken an ihren Beinen, wie die Decke über sie gezogen wurde, ein Hauch auf ihrer Stirn, ob von einer Hand oder von Lippen, konnte sie nicht unterscheiden, dann zog der Schlaf sie wieder mit sich hinab.
    Wäre sie wach gewesen, hätte sie sich ans Fenster gestellt und hinausgesehen, so hätte sie im fahlblauen Licht des anbrechenden Morgens neben den Gleisen die Leichen fünf maskierter Männer liegen sehen können.
    »Guten Morgen, Memsahib.«
    Helena blinzelte in das helle Licht des Tages, als Shushila die schweren Vorhänge beiseite schob. Sie stöhnte leise auf – jeder Muskel ihres Körpers schien zu schmerzen, ihr Kopf nicht minder.
    »Möchten Sie im Bett frühstücken oder huzoor im Salon Gesellschaft leisten?«
    Ein freudiges Gefühl zog durch Helenas Magengrube. Die Erinnerung an seine Nähe gestern Nacht, seine Berührung, ließ angenehme Schauer durch ihren Körper rieseln.
    »Ich … ich denke, ich werde in den Salon hinübergehen.«
    Hinter dem Paravent zog Helena das Nachthemd über den Kopf, wusch sich rasch und stieg in die knöchellange Hose und das mit Spitzen verzierte Trägerhemd – sich nackt vor Shushila zu zeigen, dazu schämte sie sich zu sehr; erst dann ließ sie sich von ihr mit dem Korsett und den vielen feinen Haken des weißen Musselinkleides zur Hand gehen. Als Shushila vorausgeeilt war, um das Frühstück für sie zu richten, blickte sie noch einmal kurz in den Spiegel des Frisiertisches, musterte sich kritisch, fuhr noch einmal glättend über ihre wilde Mähne, runzelte die Stirn und seufzte unhörbar auf. Es nutzte alles nichts: Sie war keine Schönheit, würde es nie

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