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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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Mensch sein.« In der Dunkelheit konnte sie einen Funken in seinen Augen aufblitzen sehen, ehe sie wieder ernst wurden. »Fehlt er dir?«
    Helena zuckte mit den Schultern, sah angestrengt über den Kopf des Pferdes hinweg.
    »Er war nicht mehr derselbe, nachdem – nachdem meine Mutter gestorben war. Von diesem Tag an lebte er in seiner eigenen Welt, und ganz gleich, was ich auch versuchte, ich konnte einfach nicht mehr zu ihm durchdringen. Ich glaube, er ist bereits damals mit ihr gestorben, lange, bevor er uns endgültig verließ. Jason nimmt es leichter – er hat ihn niemals anders gekannt …« Ihre Stimme brach.
    Tränen rannen ihr aus den Augen, doch sie bemerkte sie erst, als Ian über ihre nassen Wangen strich. Widerstandslos ließ sie sich zu ihm ziehen, ließ es geschehen, dass er sie in die Arme schloss und festhielt. In ihrer Verlassenheit und Hilflosigkeit klammerte sie sich an ihn, weinte an seiner Schulter die Tränen, die in ihr eingefroren gewesen waren. Sanft küsste er ihr Haar, ihre Schläfen, die Wangen. Sie sahen sich an, einen Augenblick nur, in dem Helena ihren eigenen Schmerz in seinen Augen widergespiegelt fand, ehe diese sich verdunkelten und sie in die Tiefe seines Blicks zu stürzen glaubte, und es überraschte sie nicht, als sie seine Lippen auf den ihren spürte, warm und weich. Erneut schossen Tränen in ihre Augen, diesmal die des Glücks und der Befreiung, rannen unter ihren geschlossenen Lidern hervor, als sie seinen Kuss erwiderte, in dem kein Verlangen lag, nur unendliche Zärtlichkeit. Ian hielt sie so vorsichtig, als könnte sie unter seiner Berührung zerbrechen, und doch so fest, dass sie seinen Herzschlag auf ihrer Haut fühlen konnte. Er schmeckte nach Tabak, nach Tee und Salz, und wie von selbst öffneten sich ihre Lippen. Wie ein Lavastrom floss es glühend durch sie hindurch, als seine Zunge die ihre berührte. Sein Mund wanderte über ihre Wangen, hinterließ Brandmale auf ihrer Haut, als er »Helena, meine süße kleine Helena« darauf hauchte, ehe er wieder zu ihren Lippen zurückkehrte. Einen Moment lang schien es Helena, als löse sie sich auf, als sei sie Erde und Himmel und Ian zugleich. Dann schien etwas in ihr zu zerreißen; sie stieß ihn von sich und taumelte ein paar Schritte zurück, begann zu laufen, in Richtung des Feuers, dessen Flammen knisternd in die Nacht hinausloderten, suchte zitternd Schutz im Innern des Zeltes und am schlafschweren Kinderkörper ihres Bruders.
    Als sie am nächsten Tag die Zelte abbrachen und sich auf den Weg machten, vermied sie es, Ians Blicke zu erwidern. Sie war erleichtert, als er sich, ohne ein Wort an sie zu richten, wieder an die Spitze der Reitergruppe setzte – und gleichzeitig kränkte es sie. Es hat ihm nichts bedeutet – ich bedeute ihm nichts, nicht mehr als alle anderen auch, mit denen er sich bislang vergnügt hat … Trotzig hob sie den Kopf an, gab sich ein hochmütiges Aussehen, doch hinter ihren Augen brannten Tränen, und sie fühlte sich elend.
    Ein weiterer Tag in der Steppe, auf den Rücken der Pferde, ununterscheidbar von den vorangegangenen, und doch schien er Helena noch zäher vorüberzugehen als die vorigen. Sie atmete auf, als sie gegen Abend endlich hielten und das Lager errichteten.
    Sie war kaum von ihrer Stute herabgestiegen, als sie davoneilte, sich in der hereinbrechenden Dunkelheit, weitab des Lagers, einen Platz hinter den Büschen suchte. Den Kopf in die Hände gestützt, auf der nackten Erde sitzend, versuchte sie, Ordnung in den Wirbel ihrer Gedanken und widerstreitenden Emotionen zu bringen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Das Knirschen von Steinen und toter Erde unter Stiefeln ließ sie auffahren. Wortlos hielt Ian ihr dampfenden Tee in einem einfachen Emailbecher hin.
    »Danke.« Die Laute blieben ihr beinahe im Hals stecken. Auf geheimnisvolle Weise schien er immer zu wissen, was sie gerade am nötigsten brauchte. Ian zögerte, dann setzte er sich auf den Stein neben sie.
    »Ich hoffe, die Reise ist nicht allzu beschwerlich für dich, ohne jeglichen Komfort«, sagte er in neutralem Tonfall.
    Helena schüttelte den Kopf und pustete über den heißen Tee, ehe sie vorsichtig einen Schluck nahm. »Nein.« Sie streifte ihn mit einem Seitenblick. »Dir scheint es gleichfalls wenig auszumachen.«
    »Ich bin nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden, falls du das meinst. Wir lebten sehr einfach, als ich ein Kind war. Wir litten keinen Hunger, das nicht, aber wir verfügten

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