Himmel über Darjeeling
draußen scheint dich das Gesetz des purdah nicht zu kümmern«, konnte sie sich nicht verkneifen.
Ian lachte auf. »Scharf beobachtet. Aber schließlich besteht die Kunst auch darin, instinktiv zu wissen, wann solche Gesetze zu befolgen und wann sie zu umgehen sind.« Er sah sie amüsiert an, ehe er die Zügel anzog und sein Pferd wieder nach vorne lenkte.
Rajiv, das Chamäleon.
Die Sonne stieg hoch hinauf, erwärmte die Ebene und ließ gegen Mittag die Luft dicht am Boden flirren. Helena entledigte sich im Sattel des Schals und der Jacke, öffnete die obersten Knöpfe des Hemdes und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Wie lange hatte sie das entbehren müssen, die Wärme, die Helligkeit, die durch jede Pore ihrer Haut zu dringen schien, bis in ihre Seele hinein.
Bis auf eine kurze Rast alle paar Stunden, in denen sie abstiegen, um Wasser und eine leichte Mahlzeit aus chapatis , kaltem Fleisch und Gemüse zu sich zu nehmen, ritten sie ununterbrochen, bis die Sonne sich unter einem flammenden Himmel hinter die Berge senkte.
Die Pferde wurden an die starken Äste eines Baumes gebunden; mit geübten Handgriffen entfalteten die Männer Bahnen aus Segeltuch, schlugen Pflöcke in die Erde, errichteten zwei Zelte. Ein Feuer wurde entzündet, Tee gekocht, und noch während die Inder mit Stöcken und leisen Zisch- und Schnalzlauten draußen Skorpione und Schlangen aufzuspüren und zu verscheuchen suchten, war Helena in einem der Zelte, Jason in ihre Armbeuge gekuschelt, auf dem einfachen Nachtlager aus Decken und Laken in einen tiefen Schlaf gefallen, todmüde und mit schmerzenden Muskeln.
Tag für Tag verstrich, in eintönigem Gleichmaß. Es war nicht so sehr die körperliche Anstrengung, die diese Tage so ermüdend machte, sondern die Monotonie – der Trab der Pferde, die Stille und Leere der Landschaft, nur selten von einem auffliegenden Vogel oder einer vorbeihuschenden Schlange unterbrochen, das Schweigen der Reiter. Es gelang Helena nicht einmal mehr mitzuzählen, den wievielten Tag sie nun schon so unterwegs waren – war es der vierte oder erst der dritte? Selbst die berauschenden Farben der Sonnenaufgänge und des Abendlichts verschwammen im Grau der öden Stunden. Doch gleichzeitig gewöhnte sich Helenas Körper an den Rhythmus und ließ sie abends nicht mehr sofort erschöpft auf ihr Lager fallen, kaum dass es hergerichtet war. Sie konnte ihre Muskeln ein wenig lockern, indem sie um den Lagerplatz herum auf und ab ging, die zunehmende Kühle der Abendluft tief in sich aufsaugend, wohltuend auf der sonnendurchglühten Haut ihres Gesichtes und der Arme.
Ein leichter Wind strich über die Ebene, ließ die Blätter der Sträucher knistern und fing sich in Helenas Haar. Sie zog ihren Schal enger um sich, sah von der kleinen Anhöhe, unter der sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten, in das scheinbar unendliche Rajputana hinaus, das sich im silbernen Licht der Sterne vor ihr erstreckte. Irgendwo raschelte eine Echse durch den Staub. Weit entfernt schrie ein Tier, einmal, zweimal; sein klagender Laut ließ Helena frösteln, doch in der Nähe der Zelte, bewacht von den Rajputenkriegern mit ihren ernsten, wachsamen Gesichtern unter den Turbanen, fühlte sie sich sicher.
Langsam kehrte sie um; Sand und Steine knirschten unter ihren Stiefeln. Die Pferde wieherten leise, als sie vorüberging, klirrten mit ihrem Zaumzeug. Liebevoll strich Helena hier über eine Kruppe, dort einen Hals, sprach beruhigend auf sie ein. Es waren schöne Tiere, kräftig und stämmig, von ruhigem und ausdauerndem Temperament. Einmal mehr staunte sie darüber, wie sehr alles bis ins kleinste Detail vorbereitet worden war – als hätte Ian schon lange zuvor diese Reise geplant. Oder als hätte er sie schon oft unternommen … Das plötzliche Aufwallen von Sehnsucht nach etwas, was sie nicht hätte benennen können, ließ sie ihre Arme um den Hals eines der Pferde schlingen, ihr Gesicht gegen das warme Fell pressen, das nach Erde und Sonne und Leben roch.
»Sie mögen dich.«
Helenas Herz begann zu rasen, doch es vergingen einige Augenblicke, bevor sie aufblickte und Ian ansah. Sie löste sich von dem Pferd und streichelte verlegen über seine Nüstern. Der dunkle Hengst neben ihr beugte den Kopf, stupste Ian sanft, der daraufhin begann, das Pferd zwischen den Ohren zu kraulen.
»Pferde spüren es, ob ein Mensch gut oder böse ist, hat mein Vater einmal gesagt«, sagte sie leise.
Ian lachte leise. »Dann kann ich ja kein allzu schlechter
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